„Dramatische Situation!“

„Dramatische Situation!“

Wie gefährlich ist der neue Kalte Krieg? Und welche Rolle spielt Deutschland in der neuen Konfrontation der Mächte? Der russische Intellektuelle und Politikwissen- schaftler Alexander Dugin im ZUERST!-Gespräch

Herr Dugin, die USA und Rußland scheinen sich politisch immer weiter voneinander zu entfernen. Neben den politischen Gegensätzen zwischen Wa- shington und Moskau, die weiter zum Vorschein kommen, wird auch auf bei- den Seiten wieder hochgerüstet. Befinden wir uns in einem neuen Kalten Krieg?

Dugin: Wir können diese Situation durchaus als Kalten Krieg bezeichnen. Aber man sollte nicht den Fehler dabei begehen, einfach von einer Neuauflage des früheren Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion aus- zugehen.

...aber es sind wieder die beiden Machtzentren Washington und Moskau? Dugin: Ganz so einfach ist es diesmal nicht. Es gibt in der Tat wieder zwei gro- ße politische Lager. Auf der einen Seite stehen die USA und ihre Verbündeten. Dazu gehören natürlich das sogenannte transatlantische Lager in Europa, aber auch einige Staaten im arabischen Raum wie beispielsweise Saudi-Arabi- en, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar.

Europa zählen Sie zum US-Lager?

Dugin: Nein, so kann man das nicht sa- gen. Europa ist sehr komplex, es gibt viele unterschiedliche Kulturen und auch verschiedene politische Strömun- gen. Allerdings scheint derzeit jene poli- tische Strömung, die sich dem US-He- gemonialanspruch unterordnet, die dominante zu sein. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es gerade in Europa auch sehr viele politische und kulturelle Gegenbewegungen dazu gibt. Und es gibt natürlich nach wie vor Län- der in Europa, die sich mit der US-He- gemonie ganz und gar nicht anfreun- den wollen – wie beispielsweise Serbien. Dennoch: All die Staaten, die sich der „transatlantischen Wertegemeinschaft“ zugehörig fühlen, orientieren sich klar in Richtung Washington. Auch die Bundesrepublik Deutschland tut das.

Und Moskau führt sozusagen das geg- nerische Lager an?
Dugin: Nein, heute ist das anders. Die- sem westlichen Bündnis steht eine Viel- zahl souveräner Staaten gegenüber, die weder durch eine gemeinsame Führung noch durch eine gemeinsame Ideologie geeint sind. Sie verfolgen nicht einmal eine gemeinsame, kohärente Strategie. Ihr Handeln ist dadurch gekennzeich- net, daß sie stets reagieren, wenn der westliche Hegemonialanspruch auf sie übergreift. Dann verteidigen sich diese Staaten. Die Tatsache, daß diese Staaten weder ein gemeinsames Konzept noch eine einigende Idee aufweisen können, läßt sie im Vergleich zum Westen als schwach erscheinen. Dem gegenüber steht der Westen mit seiner ultralibera- len Ideologie, einer von allen westlichen Staaten anerkannten Führungsrolle der USA sowie einem gemeinsamen Vertei- digungsbündnis. Durch die Europäer ist dieses Bündnis wirtschaftlich potent, es ist gut organisiert und dadurch in der Lage, seine Interessen mit Nachdruck zu verfolgen. Wir haben also auf der ei- nen Seite eine Ideologie – basierend auf postmodernen Werten und dem freien Markt –, eine Führungsmacht sowie eine gemeinsame Strategie, und auf der anderen Seite haben wir lediglich eine Ansammlung unabhängiger, souverä- ner Staaten – darunter auch Rußland und China –, die weder eine Ideologie noch eine gemeinsame Strategie eint. Rußland und China verfügen über eine große Zahl an Nuklearwaffen, macht sie das nicht zu den natürlichen Führungs- mächten des nicht-westlichen Lagers? Dugin: Natürlich hebt sie das hervor. Man darf auch eines nicht vergessen: Rußland hat eine lange Geschichte. Und ein wichtiger Teil dieser Geschichte ist es, dem Westen zu trotzen und auf seine Unabhängigkeit zu pochen.

...wie einst die Sowjetunion?

Dugin: DieseGeschichtereichtlangein die Zeit vor der Sowjetunion zurück. Rußland hat eine christlich-orthodoxe Identität, die sich früher bereits stets in Konfrontation mit der römisch-katho- lischen und protestantischen Identität Westeuropas und der USA befand. Wir sprechen hier jetzt nicht nur über Kon- fessionen des Christentums, sondern über damit zusammenhängende kul- turelle identitätsstiftende Faktoren. Das gleiche gilt übrigens auch für China, das sich in seiner langen Geschichte stets seine Eigenständigkeit gegenüber west- lichen Mächten zu bewahren versuchte.

Rußland und China treten heute als verbündeter Block im UN-Sicherheits- rat auf, wenn es darum geht, eine Militärintervention in Syrien zu ver- hindern...


Dugin: Verwechseln Sie das aber nicht mit einem politischen oder gar militäri- schen Bündnis! Moskau und Peking reagieren auch in diesem Falle nur auf die westlichen Vorstöße bei den UN. Sie verhindern lediglich gemeinsam eine UN-Resolution gegen Syrien, die einer Militärintervention gegen Damaskus die Grundlage bieten könnte. Dieses ge- meinsame Vorgehen fußt aber nicht auf einer gemeinsamen Idee, sondern ist le- diglich eine Abwehrhaltung, die sehr ereignisorientiert ist.

Rußland und China stehen aber nicht allein in ihrer Abwehrhaltung gegen- über dem Westen...


Dugin: Nein, natürlich nicht. Im anti- westlichen Lager – wenn man es so be- zeichnen will – sind viele Staaten, die aber völlig unterschiedlich organisiert und strukturiert sind. Wir haben, wie bereits gesagt, Rußland und China mit ihrer langen Tradition der Unabhängig- keit und Eigenständigkeit. Die Islami- sche Republik Iran spielt mittlerweile ebenfalls eine gewichtige Rolle in die- sem Lager. Im Gegensatz zu Rußland und China ist der Iran ein religiöser schiitischer Staat, dessen Grundord- nung seit der Islamischen Revolution im Jahre 1979 auf den islamischen Glaubensgrundsätzen fußt. Auch der Iran hat eine lange kulturelle Geschich- te. Und dann gibt es noch Lateinameri- ka, wo in vielen Ländern – wie bei- spielsweise Venezuela – versucht wird, sich von der US-Hegemonie zu lösen. Sie sehen die Unterschiedlichkeit dieser Staaten. Aber wir können heute doch in diesem Zusammenhang von einem neuen Kalten Krieg sprechen, da all die- se Länder unter dem Eindruck der US-Hegemonialbestrebungen fast gezwungenermaßen immer wieder mit- einander kooperieren müssen, obwohl sie sonst eigentlich wenig eint.

Rußlands Präsident Wladimir Putin gilt nicht gerade als „anti-westlich“...

Dugin: Das mag sein, ideologisch ist er auch nicht sehr weit entfernt. Er befür- wortet die Marktwirtschaft und viele liberale Ideen. Aber er begeht trotzdem eine Todsünde in den Augen des We- stens: Er pocht auf die Souveränität Rußlands und verwahrt sich gegen Ein- mischungen der USA in die russischen inneren Angelegenheiten. Putin ist daher sehr wachsam gegenüber allem, was sozusagen im Vorgarten Rußlands – also in Zentralasien, im Nahen und Mittleren Osten und im Kaukasus – ge- schieht, und er ist bereit, Rußlands Interessen zu verteidigen.

Die Periode des alten Kalten Krieges zwischen der NATO und dem War- schauer Pakt war einerseits von großer globaler Stabilität gekennzeichnet, an- dererseits kam es immer wieder zu re- gional begrenzten Stellvertreterkriegen. Finden diese sogenannten „Proxy- Wars“ auch heute wieder statt?

Dugin: Wir hatten in der Vergangenheit schon einige solcher Stellvertreterkrie- ge. Ich erinnere an den Kaukasuskrieg im Jahr 2008, bei dem der Westen Geor- gien bei seinem Angriff auf Südossetien und Abchasien unterstützte und Ruß- land diesen Angriff zurückschlug. Auch der Libyenkrieg, der zum Sturz von Oberst Muammar al-Gaddafi führte, war ein Stellvertreterkrieg. Und der Krieg, der heute in Syrien tobt, ist eben- falls ein Stellvertreterkrieg, bei dem der Westen in Zusammenarbeit mit seinen arabischen Verbündeten einen Umsturz versucht. Wir können aber noch weiter zurückgehen: Meiner Meinung nach ist auch der Afghanistankrieg der NATO ein Stellvertreterkrieg.

Warum das? Der Afghanistankrieg rich- tet sich doch vor allem gegen die Tali- ban, von denen nicht bekannt ist, daß sie gerade Freunde Rußlands oder Chi- nas waren. Stimmte Moskau dem NATO-Angriff auf die Taliban nicht so- gar ausdrücklich zu?

Dugin: Ja, oberflächlich betrachtet mag es ein Krieg gegen die Taliban und de- ren Verbündete sein, aber eigentlich geht es um die dauerhafte militärische

Präsenz des Westens in Zentralasien – im Süden Rußlands.
Welche Stellvertreterkriege könnten uns noch erwarten?

Dugin: An Brennpunkten fehlt es nicht. Nordkorea könnte in der Zu- kunft Schauplatz eines solchen „Proxy- War“ werden, auch wenn der Ausgang nicht unbedingt weichenstellend für die eine oder andere Seite wäre. Anders sieht es da im Nahen und Mittleren Osten aus. Sollte beispielsweise Syrien fallen, bricht dem Iran sein wichtigster Verbündeter in der Region weg. Das nächste Ziel westlicher Attacken wäre daher Teheran.

Warum?

Dugin: Die Islamische Republik Iran ist in den Augen Washingtons ein erheb- licher Störfaktor in der Region. In Tehe- ran hat man sich in der Vergangenheit erfolgreich westlichen Einmischungs- versuchen in innere Angelegenheiten widersetzt. Dort pocht man auch auf seine Eigenständigkeit und weist die Hegemonialansprüche des Westens zu- rück. Zudem unterstützen die sun- nitisch-arabischen Monarchien – wie beispielsweise Saudi-Arabien und Katar – Washington, denn die schiitische Republik des Iran wird als lästiger Kon- kurrent um die Rolle der islamischen Führungsmacht in der Region angesehen. Aber ein Krieg gegen den Iran könnte gefährlich werden. Der Stellvertreter- krieg des neuen Kalten Krieges könnte in einen tatsächlichen heißen Krieg münden.

Sie meinen einen Dritten Weltkrieg?

Dugin: Diese Gefahr ist real. Ein direk- ter militärischer Angriff auf den Iran würde sowohl in Moskau als auch in Pe- king als aggressiver Akt gegen die interessen Rußlands und Chinas interpre- tiert werden. Daran lassen diese beiden Länder keinen Zweifel. Ein Krieg von vergleichsweise niedriger Intensität, wie wir ihn im Irak, in Afghanistan oder jetzt in Syrien erleben, könnte so schnell zu einem Krieg mittlerer oder gar hoher Intensität ausarten. Dann können wir von einem richtigen, absoluten Krieg sprechen. Ein Krieg gegen Teheran wür- de eine direkte militärische Beteiligung Rußlands und Chinas bedeuten – die Supermächte würden sich dann mit ihren Waffen gegenüberstehen und sich bekämpfen.

Welche anderen Gefahrenherde für eine solche Entwicklung gibt es noch?

Dugin: Beispielsweise den Nordkau- kasus. Sollte es dort wieder zu kriegeri- schen Stellvertreterkonflikten kommen, ist auch dort die Gefahr einer Eskalati- on real. Ein anderer Konfliktherd, der erst in den letzten Wochen wieder durch die Medien ging, ist Berg-Karabach. Der Westen unterstützt – über die Tür- kei – Aserbaidschan, während Rußland als Verbündeter Armeniens gilt. Auch Aktion – ein Hooligan-Angriff auf die russisch-orthodoxe Christ-Erlöser-Ka- thedrale in Moskau – war mehr ein Theaterstück als eine Protestaktion. Was Rußland selbst angeht, hat die Kampagne kaum Auswirkungen ge- zeigt, weil die große Mehrheit der rus- sischen Gesellschaft eher konservativ und christlich-orthodox orientiert ist.

Aber für den Westen hat die Kampagne doch funktioniert!

Dugin: Die „Pussy Riot“-Kampagne führte uns vor Augen, wie der westliche Krieg über Informationsnetzwerke geführt wird. Viele westliche Nicht- regierungsorganisationen (NRO) wa- ren daran beteiligt. Präsident Putin brachte das in eine gefährliche Situa- tion. Einerseits ist er selber westlich-libe- ral orientiert – mit Ausnahme des Pochens auf nationale Souveränität –, andererseits hat ihn die Kampagne in eine Ecke getrieben, in der er sich klar gegen „Pussy Riot“ positionieren mußte, auch vor dem Hintergrund der religiösen Gefühle der Mehrheit der Russen. Der Westen hat es also mit Hilfe von „Pussy Riot“ geschafft, den rus- sischen Präsidenten direkt anzuklagen und in eine Situation zu bringen, in der er sich selber dazu äußern mußte. Der Druck hat funktioniert, Putin sitzt in diesem Fall zwischen allen Stühlen. Einerseits verlangt die russische Öffent- lichkeit nach einer Bestrafung der Kirchenschändung von „Pussy Riot“, andererseits klagt ihn der Westen öf- fentlichkeitswirksam an, die Menschen- rechte zu mißachten. Der „Störfaktor“ Putin soll so destabilisiert werden.

 

Wenn man in Rußland weiß, wie die Mechanismen des Informationskrieges funktionieren, warum wählt Moskau dann nicht die gleichen Mittel? In Euro- pa und in den USA steigt die Unzufrie- denheit mit den Regierungen, es herrscht die Angst vor einem kommen- den wirtschaftlichen Kollaps angesichts der Euro-Krise. Warum bleibt Rußland offensichtlich passiv?

Dugin: Damit sprechen Sie eine wich- tige Frage an. Ich sagte bereits: Putin mag ein russischer Nationalist sein, aber in anderen Fragen ist er westlich-liberal ausgerichtet. Sein gesamter Apparat ist westlich-liberal durchsetzt. Ich beob- achte jeden Tag, wie Putins Strategie der nationalen Selbstbestimmung Ruß- lands von der politischen Elite in Moskau sabotiert wird.

Zum Beispiel?

Dugin: Sie haben es selbst genannt! Es gibt überall in der westlichen Welt Zir- kel, Gruppen, Medien und politische Parteien, die gegen die US-Hegemonie arbeiten, teilweise sogar ausgesprochen anti-amerikanisch und anti-liberal sind. Vor allem in Europa können wir das beobachten. Es wäre das natürlich- ste von der Welt, genau diese Gruppen zu unterstützen! Rußland hätte die Macht und die Infrastruktur, genau die- sen Gruppen zu helfen und so einen ef- fektiven Gegenangriff im Informations- krieg zu starten. Aber genau dieser Schritt wird von politischen Netzwer- ken innerhalb Rußlands erfolgreich blockiert. Diese pro-westlichen Netz- werke wurden bereits in den 1990er Jahren – unter Präsident Boris Jelzin – installiert und entfalten ihre Wirkung mehr und mehr.

Können Sie Namen nennen?

Dugin: Sicherlich: Einer der engsten Berater des russischen Ministerprä- sidenten und Putin-Vertrauten Dmitri Medwedew – der selbst pro-westlich und liberal orientiert ist – ist Igor Jürgens, der Kopf einer liberalen Denkfabrik in Moskau. Er steht den Oligarchen nahe und hat gute Verbindungen zur wirtschaftlichen Elite des Landes – wel- cher wiederum die globale Wirtschafts- elite nähersteht als die russischen Inter- essen. Ich will es nochmal deutlich ma- chen: Wenn wir über die westliche Ein- flußnahme auf Rußland sprechen, dann geht es eben nicht nur um die politische Opposition oder vom Westen gesteuer- te NROs, sondern auch um politische Netzwerke, die bereits im Kreml tätig sind. Zu diesen Netzwerken gehören neben Wirtschaftsleuten auch rang- hohe Mitglieder des Militärs und der Geheimdienste. Diese Zirkel sabotieren und blockieren Rußlands Souveränität auf hohem Niveau.

Können Sie Beispiele nennen?

dort könnte es daher zu einer direkten Konfrontation kommen, wenn die USA Aserbaidschan zu einem neuen Angriff auf die armenische Republik Berg-Ka- rabach aufstacheln.

In den westlichen Mainstreammedien scheint der Krieg gegen Rußland längst ausgebrochen zu sein?
Dugin: Der Informationskrieg gegen Rußland tobt schon lange. Man kann ihn durchaus als eine Art symbolischen Krieg bezeichnen. Und stets geht es um die Frage der russischen Souveränität. Stichwort „Pussy Riot“...

Dugin: Die „Pussy Riot“-Kampagne ist ein gutes Beispiel dafür! Die gesamte

von „Pussy Riot“ geschafft, den rus- sischen Präsidenten direkt anzuklagen und in eine Situation zu bringen, in der er sich selber dazu äußern mußte. Der Druck hat funktioniert, Putin sitzt in diesem Fall zwischen allen Stühlen. Einerseits verlangt die russische Öffent- lichkeit nach einer Bestrafung der Kirchenschändung von „Pussy Riot“, andererseits klagt ihn der Westen öf- fentlichkeitswirksam an, die Menschen- rechte zu mißachten. Der „Störfaktor“ Putin soll so destabilisiert werden. Wenn man in Rußland weiß, wie die Mechanismen des Informationskrieges funktionieren, warum wählt Moska

 

Dugin: Wir haben von der völligen Pas- sivität Rußlands im Informationskrieg bereits gesprochen. Hier blockieren die- se Kreise erfolgreich die Unterstützung politisch unabhängiger Gruppen in Europa. Aber auch die Bestrebungen, eine Art eurasisches Bündnis mit Län- dern wie Kasachstan und Weißrußland einzugehen, werden erfolgreich ver- langsamt. Man kann es auch so ausdrücken: Der Westen kontrolliert die russische politische Elite, die oftmals ihr Geld in westlichen Banken lagert. Dies eröffnet auch Möglichkeiten der Erpressung durch den Westen.

Das klingt geradezu dramatisch, als sei der „russische Bär“ – das größte Land der Erde – durch diese Zirkel quasi gelähmt.

Dugin: So kann man es ausdrücken. Putin ist praktisch isoliert im Kreml. Er ist umzingelt von einer korrumpierten politischen Elite, die ihm ständig Knüp- pel zwischen die Beine wirft. Gleichzei- tig wird er aber von einem großen Teil des russischen Volkes in einem souverä- nistischen Kurs gestützt. Diese gegen- sätzlichen Kräfte lähmen das eigentlich starke Land.

BefindetsichderWestenabernichtauch in einer dramatischen Situation?

Dugin: Absolut. Natürlich ist die Lage des Westens anders als die Rußlands. Schauen Sie nach Europa: Die EU be- findet sich in einer tiefen Krise, Grie- chenland rebelliert auf der Straße, Zen- tral- und Nordeuropa ächzen unter den gesellschaftlichen, politischen und wirt- schaftlichen Lasten der jahrzehntelan- gen Masseneinwanderung. Selbst die USA befinden sich in einer tiefgreifen- den Krise. Doch genau diese westliche Krise ist es, die die Situation verschärft. Denn in einer solchen Situation haben die Hardliner Oberwasser. In den USA wird laufend über einen möglichen Krieg gegen den Iran diskutiert, obwohl in New York US-amerikanische Bürger gegen die Wallstreet demonstrieren. Plötzlich dis- kutiert man nur noch über den richtigen Zeitpunkt für die kommenden Kriege. Lenin sagte einmal: Gestern war es zu früh, morgen wird es zu spät sein.

Herr Dugin, Sie vertreten das Konzept eines eurasischen Bündnisses. Setzt das nicht voraus, daß sich die europäischen Staaten mittel- bis langfristig von der Brüsseler EU lösen und sich neu orien- tieren? Ist das realistisch?

Dugin: Sehen Sie, Rußland ist sozusagen der natürliche Verbündete eines freien und unabhängigen Europas. Da gibt es eigentlich gar keine andere Option. Natürlich wird derzeit diese Option in Europa nicht diskutiert, denn dort blockiert sie der transatlantische „Pussy Riot“-Fanclub (lacht). Aber das kann sich bald ändern. Wer ahnte denn schon im Sommer 1989, daß die Berliner Mauer fällt? Es waren nur wenige, die von den Etablierten für verrückt oder für gefährlich erklärt wurden.

Wie sehen Sie die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen? Immerhin waren die auch schon mal besser als heute...

Dugin: Deutschland und Ruß-
land verbindet viel, wir blicken
auf eine lange gemeinsame Ge- schichte zurück. Das wird heute gerne – vor allem im Westen – vergessen. In der Konvention von Tauroggen im Jahr 1812 handelte der preußische Generalleutnant Johann David von Yorck eigenmächtig einen Waffenstillstand zwischen dem von Napoleon in seinem Rußlandfeld- zug eingesetzten preußischen Hilfs- korps und der russischen Armee aus. Rußland unterstützte Preußens Auf- stand gegen die Franzosen, der zu den anti-napoleonischen Freiheitskriegen führte. Die russische Diplomatie hat auch dazu beigetragen, daß 1871 das Deutsche Reich gegründet werden konnte. Rußland unterstützte ein star- kes Deutschland auf dem europäischen Kontinent. Otto von Bismarck bekam viel Unterstützung aus St. Petersburg. Dies sind nur zwei Beispiele, die Liste deutsch-russischer Kooperationen ist lang, und stets profitierten beide Länder davon. Auch kulturell sind die Bezie- hungen eng, deutsche und russische Philosophen schätzten einander sehr, fühlten sich verbunden. Natürlich kämpften wir auch in blutigen Kriegen gegeneinander – aber diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.

Und heute?

Dugin: Deutschland ist die tragende Säule der europäischen Wirtschaft. Eu- ropäische Wirtschaft bedeutet eigent- lich: deutsche Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft unterscheidet sich stark vom westlich-britischen Kapitalismus. In Deutschland setzt man auf Industrie sowie tatsächliche Wertschöpfung durch Güterproduktion und nicht auf einen immateriellen Finanz- und Bank- kapitalismus. Heute wird Deutschland von einer transatlantischen Elite kontrolliert, was eine Annäherung an Rußland verhindert. In Rußland denkt man übrigens absolut pro-deutsch. Putin gilt als großer Freund Deutsch- lands. Aber derzeit versucht die Berliner Regierung – und auch die Opposition gleichermaßen – Deutschland weiter in die EU zu „integrieren“, Souveränität wegzugeben. Für Deutschland ist die Situation dramatisch!

Inwiefern?

Dugin: Deutschland ist ein besetztes, ein fremdbestimmtes Land. Die US-Amerikaner üben die Kontrolle aus. Die deutsche politische Elite ist nicht frei. Die Konsequenz: Berlin kann nicht so handeln, wie es in dieser Situation eigentlich zum Wohle des Landes han- deln müßte. Momentan wird Deutsch- land gegen seine eigenen Interessen re- giert. Wir Russen können den Deut- schen helfen, indem wir die Situation Berlins besser verstehen und darauf hinarbeiten, daß wir beispielsweise deutsch-russische Netzwerke auf ver- schiedenen Ebenen bilden. Wir können mit verschiedenen Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland zusam- menarbeiten, unsere kulturellen Bezie- hungen vertiefen. Ich glaube fest daran, daß es ein Deutschland geben wird, welches ein freies, starkes und selbst- bestimmtes Land in Europa ist und eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Ost und West einnehmen kann. Die derzei- tige Rolle des Vasallen für Brüssel und Washington kann nicht Deutschlands Schicksal sein.

Herr Dugin, vielen Dank für das Ge- spräch.