Heideggers russische Sendung

Heideggers russische Sendung

 


Ein philosophisches Grossprojekt von Alexander Dugin

27. September 2011

 

Felix Philipp Ingold ⋅ Über viele Jahrzehnte hin war die philosophische Szene Russlands vom Marxismus-Leninismus dominiert, der als Träger der sowjetischen Staatsideologie nicht nur das zeitgenössische westliche Denken weitgehend ausblendete, sondern auch zentrale Bereiche der autochthonen russischen Geisteswelt, die sich seit der Romantik als «Slawophilie», als populistische «Bodenständigkeit» oder auch als «neues religiöses Bewusstsein» konstituiert hatten. Als diese massive Verdrängung und die damit verbundenen Zensurmassnahmen nach dem Zusammenbruch der UdSSR offiziell aufgehoben wurden, stand zunächst die Aufarbeitung all dessen an, was der verordneten «Vergessenheit» anheimgefallen war.

Ein Rundumschlag

Inzwischen ist diese Aufarbeitung geschehen, die philosophische Kultur hat sich merklich wiederbelebt, in einschlägigen Kolloquien und Zeitschriften finden unentwegt Diskussionen statt, von denen kaum ein namhafter Autor zwischen Weininger und Deleuze, zwischen Berdjajew, Kojève und Bibler ausgeschlossen bleibt. Allerdings hat sich die postsowjetische Philosophie bisher im Wesentlichen auf die Rezeption westlicher Vorgaben und den Rückgriff auf das eigene verschüttete Erbe beschränkt. Wohl wurden dadurch punktuell neue Wertsetzungen vorgenommen (klare Präferenz etwa für Oswald Spengler, Carl Schmitt, Ernst Jünger oder C. G. Jung gegenüber Adorno, Althusser, Ernst Bloch), doch eigenständige impulsgebende Neuansätze sind kaum auszumachen.

Nun legt der Moskauer Philosoph und Politologe Alexander Dugin, bekannt als Verfasser von zwei Dutzend Monografien wie auch als Wortführer einer patriotisch geprägten «neoeurasischen» Bewegung, eine fünfhundert Seiten starke Schrift vor, die als Manifest für eine radikale Erneuerung des russischen philosophischen Denkens gelten kann. Das mit zahlreichen Diagrammen und einem Literaturverzeichnis im Umfang von rund tausend Titeln ausgestattete Werk ist in mancher Hinsicht bemerkenswert. Auffallend zunächst die Tatsache, dass ein nationalistisch gesinnter Autor sich eine Erneuerung der russischen Philosophie nur unter der geistigen Führung Martin Heideggers vorstellen kann. «Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie (Chajdegger: Wosmoshnost russkoj filosofii)» – so betitelt Dugin sein beim Verlag Das Akademische Projekt erschienenes Buch.

In einem ersten Schritt bietet der Autor eine staunenswerte – ebenso sachkundige wie selbstkritische – Bestandsaufnahme der russischen philosophischen Kultur; staunenswert allein schon deshalb, weil hier ein konservativer Nationalist zu einem Rundumschlag ausholt, den sich wohl kein noch so progressiver «Westler» erlauben würde. Dugins Fazit besteht nämlich ohne Wenn und Aber darin, dass der bisherige Ertrag russischen Denkens null und nichtig sei – lediglich ein hybrider Ableger (nach Oswald Spengler eine «Pseudomorphose») abendländischer Schulphilosophie, untermischt mit mythischen Vorstellungen, Esoterik und Folklore, insgesamt ein unbekömmliches, unreines, unbrauchbares Gedankengemenge, dem es an Konsistenz ebenso mangele wie an Eigenständigkeit. Die prekäre Besonderheit russischer Philosophie beschränke sich darauf, nicht eigenständig, nicht konsistent, vielmehr durch und durch uneigentlich, also eine Fälschung zu sein.

Als Produkt dieser Fälschung, an der Philosophen aller Denkrichtungen willfährig mitgearbeitet hätten, stellt Dugin die von ihm so genannte «Archäomoderne» heraus, eine bipolare geistesgeschichtliche Konstellation, die das russische Denken seit je schwer behindert, auch in die Irre geführt, wenn nicht gar «verdummt» habe. Dugin scheut sich nicht, gerade Russlands einflussreichste philosophische Autoren – allen voran Wladimir Solowjow – einer spezifischen «Dummheit» zu bezichtigen, mit der im Übrigen auch die meisten der jüngst wiederentdeckten und heute hochgeschätzten Denker der vorrevolutionären Moderne geschlagen gewesen seien. Was sich wie ein vernichtendes Pauschalverdikt ausnimmt, erweist sich jedoch als ein verkapptes Lob solcher Dummheit – idiotisches, absurdes, chaotisches Denken ist nämlich, so Dugin, bei all seiner argumentativen und konzeptuellen Schwäche ein produktives Möglichkeitsdenken, das Spekulation und Offenbarung, Wissen und Glauben gleichermassen zu integrieren vermag und auch für Widerspruch und Widersinn offenbleibt; nicht Systembildung, vielmehr Sinnbildung ist das Ziel dieses Denkens: Lebensphilosophie und Lebenshilfe in einem.

Von daher vermag der Autor seine Kritik dann doch noch ein wenig zu relativieren, etwa mit Hinweis auf die russische «Sophiologie» als Verbindung von Weisheit und Weiblichkeit (in der Nachfolge Solowjows), auf den «Neobyzantinismus» (Leontjew) oder auf Ansätze zu einer Synthetisierung von Philosophie und christlicher Orthodoxie (bei Bulgakow, Florenski). – Was für Alexander Dugin nunmehr ansteht, ist die kompromisslose Demontage der russischen «Archäomoderne», will heissen: die definitive Überwindung der «abendländischen» Schulphilosophie, die Erschliessung östlicher Weisheitslehren, die Synthetisierung euroasiatischer Denkformen – all dies aber nicht in Form einer neuen Systembildung, vielmehr als Ermöglichung einer «chaotischen» philosophischen Gemengelage, die zugleich Aufruhr und Dauerzustand sein soll, nämlich eine «authentische» Lebensphilosophie in permanenter Revolte.

Der Präzeptor

In Martin Heidegger erkennt Dugin den weltweit einzigen Präzeptor, aus dessen Denken sich eine derartige Philosophie entwickeln liesse. Zwei Gründe für dieses erstaunliche Ansinnen werden namhaft gemacht: Erstens habe Heidegger – Dugin bezieht sich vorab auf die nachgelassenen «Beiträge zur Philosophie», auf die «Geschichte des Seyns», auf die Schrift «Über den Anfang» – die europäische Philosophie von Anaximander bis Nietzsche vollumfänglich aufgearbeitet, habe sie gleichsam auf den Punkt gebracht und so endgültig vergegenwärtigt, dass sie als erledigt gelten und somit einen ganz «anderen Anfang» eröffnen könne; zweitens biete er mit seiner Daseinsphilosophie ein Modell, das besser als jedes andre geeignet sei, für ein neues, eigensinniges und eigendynamisches russisches Denken vorbildlich zu werden.

Um diese Übertragung zu bewerkstelligen, schlägt Dugin mit zahlreichen Argumenten und lebenspraktischen Beispielen eine Modifikation des Heideggerschen Modells vor, dessen primäre Orientierung an der Zeitlichkeit er durch räumliche Perspektiven ersetzt sehen möchte. Das «Dasein» soll demzufolge auf das «Da» fokussiert werden, auf den Natur- und Lebensraum, auf Heim und Heimat, auf das spezifisch russische «In-der-Welt-Sein». Was Heidegger metaphorisch als «Geviert» oder «Lichtung», als «Feld-» oder «Holzweg» ausweist, sieht Dugin im «Design» der realen russischen Lebenswelt konkretisiert – der Gleichklang von «Design» und «Dasein» soll diese eigenwillige Übertragung auch auf der Wortebene beglaubigen. Doch der Gleichklang markiert auch eine fundamentale Differenz, die durch die Übertragung erst eigentlich erkennbar wird: Nach Dugin ist das russische «Design» nämlich «prinzipiell und wesentlich chaotisch, steht also auch in einem prinzipiell andern Verhältnis zum Sein als das europäische Dasein». Das reale russische «Da» soll im Verein mit der system- und fortschrittsfeindlichen russischen «Dummheit» einen andern (nämlich erstmals den eigenen) Anfang russischen Philosophierens ermöglichen: Solches Philosophieren wird notwendigerweise chaotisch sein, denn das Russentum selbst ist «das Chaos», und das Da-Design, ist «das Sein der Erde, ist eine Erde für alle, ist die Russische Erde, und wir sind die Träger der Philosophie dieser Erde».

Delirantes Denken

Es ist ein delirierendes, ein typisch russisches und gleichzeitig ein global gültiges Denken und Sprechen, das Dugin mit viel rhetorischem Aufwand beliebt zu machen versucht. Dass er dafür einen nichtrussischen Vordenker heranzieht, dass er sich fast ausschliesslich auf westliche Fachliteratur bezieht und dass er vorzugsweise mit fremdsprachigen Begriffen operiert, steht dazu in auffälligem Widerspruch – selbst die Heideggerschen Grundbegriffe übernimmt er, mangels russischer Äquivalenzen, im originalen deutschen Wortlaut. Lässt sich solcherart eine «authentische» russische Philosophie oder auch bloss deren Möglichkeit eröffnen? Alexander Dugin bezeichnet seinen dickleibigen Traktat als eine vorläufige «Fingerübung» mit «Stimmprobe». Einiges dürfte von ihm also noch zu erwarten sein. Zunächst fordert er nun die Erst- oder Nachübersetzung von Heideggers Werken ins Russische: «Die Aneignung Heideggers ist der Schlüssel zum russischen Morgen.»

Alexander Dugin: Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie (Chajdegger: Wosmoshnost russkoj filosofii). Verlag Das Akademische Projekt, Moskau 2011.