Der lange Weg

Alexander Dugin (geb. 1962) ist einer der bekanntesten Schriftsteller und politischen Kommentatoren im post-sowjetischen Russland. Zusätzlich zu den vielen Büchern, die er über politische, philosophische und spirituelle Themen verfasst hat, hat er derzeit einen Lehrstuhl an der Staatlichen Universität Moskau inne und ist der geistige Führer der Eurasien-Bewegung. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist er in geopolitischen Angelegenheiten Berater von Wladimir Putin und anderer Vertreter des Kreml.

Ein mit Alexander Dugin von Guilherme Celestino, einem südamerikanischen Journalisten, geführtes Interview wird hier erstmals in einer Übersetzung für freies-oesterreich.net in deutscher Sprache veröffentlicht:

Der breiteren Öffentlichkeit ist Ihre Laufbahn wenig bekannt, können Sie uns daher zuerst über Ihren intellektuellen Werdegang in Russland etwas mehr erzählen?

Das ist ein langer Weg. Schon in meiner frühen Jugend war ich tief vom Traditionalismus eines René Guenon und eines Julius Evola begeistert. Diesem Lager wollte ich angehören – auf der Seite der heiligen Tradition gegen die moderne (und postmoderne) Welt. Diese Entscheidung und alle ihre Folgen wirken bei mir immer noch in der Gegenwart nach. Ich stehe für geistige und religiöse Werte gegenüber der heutigen dekadenten materialistischen und pervertierten Kultur. Traditionalismus war und ist für mich ein zentraler Begriff, der philosophische Angelpunkt für alle meine späteren Entwicklungsschritte.

Im gleichen Sinne habe ich ein wenig später die ideologische Tendenz der Konservativen Revolution und ihre Wiederbelebung in der französischen Neuen Rechten von Alain de Benoist entdeckt, der mein persönlicher Freund geworden ist und mich direkt beeinflusst hat. Gleichzeitig interessierte ich mich für Geopolitik und entdeckte die klassischen Werke von Mackinder, Mahan, Spykman und Haushofer. Sehr ähnliche Ideen konnte ich den Texten der russischen Eurasier von 1920-1930 entnehmen, die in der Emigration versuchten, aus Tradition, Konservatismus, slawophilen Konzepten und einigen zeitgenössischen Vorstellungen in den Bereichen der Geopolitik (Savitsky), der strukturale Linguistik (Trubetzoy), des Rechts (Alexejew), der Geschichtswissenschaft (G. Wernadskij) und so weiter eine eigene Ideologie zu schmieden. Das war der Ausgangspunkt des Neo-Eurasianismus, den ich seit Mitte der 80er Jahre entwickelt habe, als mir die Hauptmerkmale dieser neuen Weltsicht klar geworden waren.

In den frühen 90er Jahren habe ich damit begonnen, diese auf die politische Analyse der aktuellen Ergeignisse auf nationaler und internationaler Ebene anzuwenden und auf diese Weise den Rahmen des Neo-Eurasianismus zu erweitern und zu präzisieren. So habe ich die russische Schule der Geopolitik begründet, um deren Haupttexte und wichtigste Autoren in Russland bekannt zu machen und zugleich eigene neue Konzepte vorzulegen. Zugleich habe ich die Grundlage für die traditionalistische Philosophie gelegt, wobei ich versuchte, die Ideen von Guenon und Evola auf die russisch-orthodoxe christliche Tradition anzuwenden. Ich habe mich zudem mit der Frage der russischen Konservativen Revolution beschäftigt, welche auf russischen historischen Werten beruht.

War ich während der Sowjetzeit Antikommunist, so änderte sich meine Meinung angesichts der liberalen Revolte im Jahr 1991, die ich als noch schlechter als den Sozialismus einschätzte. Das Ergebnis dieser Analyse war die erste grundlegende Veränderung meiner Weltsicht: ich ließ vom Anti-Kommunismus ab und konzentrierte mich auf den Anti-Liberalismus, da ich den Liberalismus als den Hauptfeind und die letzte Inkarnation des Geistes der Moderne ansah, die ich schon immer als das absolute Böse (im Sinne von Guenon und Evola) ansah. Der Sieg des Liberalismus über den Kommunismus war in meinen Augen der Beweis seiner eschatologischen Natur. ich habe mich daher vom klassischen, eher rechts orientierten Traditionalismus ab- und einem linken Traditionalismus zugewandt, den einige auch als National-Bolschewismus bezeichnen. Dabei ging es ging mir in Wirklichkeit nicht um Kommunismus oder Bolschewismus. Mir ging es immer und geht es auch heute noch um eine totale Ablehnung des Liberalismus, den ich als jene Ideologie empfand, die sich bei ihrem Kampf gegen Kommunisten und Faschisten als konsequent modern, ja als identisch mit dem Wesen der Moderne erwies.

Die resolute Wendung der politischen Geschichte im Jahr 1991 sah ich als die Bestätigung an, dass Faschismus und Kommunismus weniger modern waren bzw. über einige anti-moderne Wesenseigenschaften verfügten.

Das war zwar beim Faschismus fast offensichtlich, nicht so deutlich erkennbar hingegen beim Kommunismus. Ich habe daher vorgeschlagen, den Marxismus und Sozialismus aus der Sicht der Rechten und den Traditionalismus aus der Sicht der Linken zu betrachten („Evola visto da sinistra“ war der Titel meines Vortrags in Rom im Jahr 1994 während des Kongresses aus Anlass des 20-jährigen Todestages von Evola).

Die 90er Jahre standen jedenfalls unter dem Zeichen der Suche nach einer gemeinsamen anti-liberalen Synthese der Linken und der Rechten. In der aktuellen Politik bedeutete dies die totale Ablehnung der Politik von Boris Jelzin sowie meine persönliche Mitwirkung an verschiedenen rechten und linken patriotischen Oppositionsgruppen.

Diese national-bolschewistische Periode dauerte von 1991 bis 1998. Ab 1998, als die russische Regierung die ersten Schritte in Richtung eines Patriotismus unternahm (die Politik von Primakow), begann ich damit, eine gemäßigte Version meiner bisherigen Ideologie asuzuformen – im wesentlichen die gleiche politische Ideologie wie im Kontext der Radikalen Mitte. Die Grundüberlegung war die, dass in der modernen westlichen Welt die Mitte absolut im Banne des Liberalismus steht (sie ist dabei gleichzeitig rechts und links – rechts im wirtschaftlichen, links im kulturellen und sozialen Sinne). Somit ist auch für den Westen eine national-bolschewistische Synthese der beiden anti-liberalen Extreme sinnvoll und richtig. Russland hat jedoch eine besondere politische Struktur, wo der Liberalismus formal, aber nicht grundlegend herrscht. Deshalb sollte man eher der Idee der Radikalen Mitte Vorschub leisten, die nicht auf einer künstlichen Umsetzung einiger Teile der rechten und linken Ideologie beruht, sondern auf einer echt russischen Ideologie, die weder kommunistisch noch nationalistisch und schon gar nicht liberal ist. Der Eurasianismus passt hier hervorragend, weil er weder rechts noch links orientiert ist.

Von 1998 bis 2004 war ich der offizielle Berater des Leiters der russischen Staatsduma G. Seleznev und zugleich Direktor des Zentrums für geopolitische Begutachtung in der russischen Duma.

Im Jahr 2000 kam Putin an die Macht. Das war der Beginn des Übergangs von Jelzins Imitation des westlichen Liberalismus zu einer organischeren russischen Politik. Es war zugleich die Zeit für die Radikale Mitte und den Eurasianismus. Die Eurasische Bewegung wurde jetzt offiziell als Netzwerk all jener eingerichtet, welche die gleiche politische Philosophie verfolgten. Bald folgten ausländische Filialen der Eurasischen Bewegung und ihre Struktur wurde zunehmend international. Mit Putin wurde meine Position, die sich bereits im Jahr 1998 zur Radikalen Mitte hin zugewandt hatte, zum Mainstream. Eurasische Ideen wurden jetzt teilweise auch von der russischen Regierung angenommen.

Seit dieser Zeit galt meine Position innerhalb des politischen Establishments als extreme, aber akzeptierte Form einer russischen patriotischen Einstellung.

In dieser Zeit wurde schließlich auch der Begriff der Vierten Politische Theorie (4PT) ausgearbeitet, worin sich die Ideen der Radikalen Mitte und des Eurasianismus fortsetzten. Hier fand die zweite wichtige Veränderung in meiner ideologischen Entwicklung statt: der Übergang von der Annahme des Kommunismus und Nationalismus in ihren antiliberalen Aspekten hin zur Überwindung jeder Art der politischen Moderne – einschließlich Kommunismus und Faschismus.

Ab 2008, als die Hauptprinzipien der 4PT klar formuliert waren, habe ich jeder Hinwendung zur zweiten oder dritte politischen Theorie (dem Kommunismus und dem Nationalismus) abgeschworen und mich ausschließlich auf die Ausarbeitung der völlig unabhängigen Vierten Politischen Theorie konzentiert, welche alle Beziehungen zur politischen Moderne abbrach.

4PT gilt stattdessen als das Bündnis zwischen der Vormoderne (dem vormodernen Traditionalismus) und der Postmoderne (wobei Heideggers Existenzphilosophie und die Zentralität des Daseins als wichtigste politische Themen aufgegriffen werden).

Inzwischen trat Putin seine dritte Amtszeit an und diess war zugleich der Moment seines entscheidenden Bruchs mit dem Liberalismus. Putin akzeptierte fortan den Eurasianismus und die Ausrichtung hin zur Radikalen Mitte und näherte sich mehr und mehr der Vierten Politischen Theorie an. Dieser Annäherungsprozess findet eben jetzt statt.

Auch in symmetrischer Betrachtung bewegt sich meine Position innerhalb des politischen Establishments – vom patriotischen Flügel als Anhänger Putins hin zum Kern des politischen Mainstream. Eben jetzt tritt Putins politischer Realismus mit meiner Vierten Politischen Theorie und der aktualisierten Version des Eurasianismus in Verbindung. An diesem Punkt sind wir heute angelangt.

Was ist „Eurasianismus“, von dem viele sagen, ist es die geopolitische Strategie hinter der Außenpolitik Putins sei?

Eurasianismus basiert auf der multipolaren Weltsicht und auf der Ablehnung der unipolaren Weltsicht, welche die Fortsetzung der amerikanischen Hegemonie anstrebt.

Die Pole des Multipolarismus sind nicht Nationalstaaten oder ideologische Blöcke, sondern Großräume (Dugin verwendet das deutsche Wort!), die strategisch durch die Grenzen der gemeinsamen Kultur verbunden sind. Typische Großräume sind Europa, der Zusammenschluss von USA, Kanada und Mexiko, das vereinte Lateinamerika, Groß-China, Groß-Indien und in unserem Fall, Eurasien.

Eurasien ist das Gebiet des alten russischen Zarenreichs oder der Sowjetunion. Wir nennen es auch Groß-Russland (Bolschaja Rossia) oder auch Russland im Sinne von Eurasien. Um einen unabhängigen Pol zu stärken, muss man verschiedene Länder in einer zentralen geopolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Einheit zusammenfassen.

Die multipolare Weltsicht kennt Integration lediglich auf der Basis der gemeinsamen Kultur. Wir sprechen in diesem Sinne von einer gemeinsamen eurasischen Kultur nicht nur der Russen und Slawen bzw. der chrtistlich-orthodoxen Völker, sondern auch der türkischen und anderer eingeborener Völker Zentralasiens, Sibiriens und des Kaukasus. Putins Außenpolitik ist um Multipolarität und eurasische Integration bemüht, was erforderlich ist, um den angedachten Pol zu schaffen und ihm Halt zu geben.

Was brachte Sie dazu, Putin zu unterstützen?

Ich habe dies bereits in meiner vorigen Antwort erläutert. Putins politischer Realismus und sein emotionaler Patriotismus ließen ihn sich mehr und mehr an meine eigene geopolitische und ideologische Position annähern. Ich unterstütze Putin aus diesem Grund, weil er die Ziele und Ideale, die im Wesentlichen meine eigenen sind, zum Inhalt seiner Politik macht und umsetzt.

Putin hat einmal gesagt, dass das Ende der Sowjetunion die größte geopolitische Tragödie des 20. Jahrhunderts war. Was halten Sie von dieser Aussage?

Der Akzent liegt hier auf dem Wort geopolitisch. Das unterstreicht, dass Putin nicht dem ideologischen Gehalt der sowjetischen Ideologie nachtrauert, sondern besorgt ist über den Zusammenbruch des politischen Raumes, der schon lange vor dem Bolschewismus vereint war, nämlich Groß-Russland als (geo)politische Einheit auf der Grundlage der kulturellen Ähnlichkeit zwischen der Geschichte und den Kulturen der verschiedenen ethnischen Gruppen und Völker dieses Raumes. Der Westen weiß so gut wie gar nichts über die wahre Geschichte Russlands. Manchen glauben sogar, dass die Sowjetunion eine rein kommunistische Schöpfung war und dass Staaten wie die Ukraine, Kasachstan oder Aserbaidschan vor der UdSSR unabhängig waren und von den Bolschewiki erobert bzw. in einen sowjetischen Staat hineingezwungen wurden.

Tatsache ist, sie sie als solche nie existiert haben und lediglich administrative Gebiete ohne jede politische oder historische Bedeutung innerhalb des Russischen Reichs wie auch innerhalb der UdSSR darstellten. Diese Länder wurden in ihren heutigen Grenzen erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion künstlich geschaffen bzw. waren das Resultat dieses Zusammenbruchs.

Putin möchte den künstlichen, zufälligen und unbegründeten Charakter dieses Staatsbildungsprozesses aufzeigen und betrachtet diese künstlich geschaffenen Länder als „gescheiterte Staaten“. Um diesen Fehler wettzumachen, müssen sie in einen neuen geopolitischen Rahmen integriert werden – die Eurasische Union.

Die Idee der Eurasischen Union ist es nicht, völlig unabhängige und erfolgreiche Länder zu erobern bzw. in die russische Einflusssphäre hineinzuzwingen, sondern vielmehr ihrem ansonsten unvermeidlichen Zusammenbruch zuvorzukommen, der sich bei der Spaltung von Georgien im Jahr 2008 oder der Spaltung der Ukraine im Jahr 2014 bereits angekündigt hat.

Was halten Sie von der Annexion der Krim und den Protesten von pro-russischen Gruppen im Osten der Ukraine?

Die Krim ist heute ein integraler Bestandteil der Russischen Föderation und daneben sind einige neue Republiken (Donetsk und Lugansk) auf der politischen Landkarte der Ex-Ukraine erschienen. Das ist das logische Ergebnis der Umtriebe jener ultranationalistischen Kräfte, die im März 2014 den Staatsstreich in Kiew durchgeführt haben, um ihre westukrainische Identität allen anderen Kreisen der ukrainischen Bevölkerung aufzuzwingen. Aber es bleibt eine Tatsache, dass im Osten und Süden der Ukraine eine Bevölkerung mit einer völlig unterschiedlichen historischen und kulturellen Identität lebt.

Die Ukraine ist ein typisch postsowjetischer, extrem künstlicher gescheiterter Staat, den es in dieser Form in der Geschichte vor 1991 nie gegeben hat. Der Westen der Ukraine hat eine Identität, der Süden und Ost hingegen eine ganz andere, die ersterer vielfach total entgegengesetzt ist. Erstere ist pro-Hitler, pro-Bandera und stark anti-russisch. Letztere ist pro-russisch, antifaschistisch und sogar etwas pro-sowjetisch (pro-Stalin). Die Bevölkerung des Südens und Ostens gehört zur russischen Welt (Russki Mir) und zur eurasischen Zivilisation. Daraus entspringt der gegenwärtige Bürgerkrieg und hierin liegt die Ursache für die logische Rückwendung der abgetrennten Teile hin zur russischen geopolitischen Zone.

Aber das ist nur zu Beginn des Prozesses: es haben zunächst „nur“ 8 Millionen der Bevölkerung mit pro-russischer eurasischer Identität darüber abgestimmt, ob sie die Unabhängigkeit oder den Anschluss an Russland wünschen. Aber es gibt mindestens 12 Millionen Menschen mit der gleichen pro-russischen Identität, die immer noch unter der Kontrolle von Kiew leben. Also wird der Kampf weitergehen.

Ist die derzeitige Situation in der Ukraine eine Herausforderung an die Wiedergeburt Russlands als Weltmacht?

Ja, so ist es. Wenn Russland in der Lage ist damit umzugehen, werden wir in einer multipolaren Welt leben. Wenn Russland es nicht schafft, wird die unipolare Welt eben noch ein wenig länger andauern … Aber ich bezweifle, dass sich die amerikanische Hegemonie noch länger halten wird können. Das bedeutet, dass Russland gewinnen wird.

Wie schätzen Sie die Rolle der russischen Diplomatie im Bürgerkrieg in Syrien ein?

Die russiche Diplomatie leistet prächtige Arbeit. Putin hat es allen in der Welt und speziell im Nahen Osten gezeigt, dass es keine strategischen Entscheidungen mehr geben kann, bei denen der eine der Bösewicht und der andere der Vertreter des Guten ist. Die USA und ihre imperialistischen Unterbevollmächtigten im Nahen Osten (Saudi-Arabien, Türkei und so weiter) unterstützen die Rebellen. Moskau und China unterstützen Assad. Was an diesem Beispiel deutlich zum Ausdruck kommt, ist das Wesen der multipolaren Welt. In einer kritischen Situation gibt es immer mehr als eine Option. Ebenso wie es bei wichtigen strategischen Entscheidungen über problematische Themen immer mehr als eine einzige Meinung gibt.

Was halten Sie von den russischen Gesetzen gegen Homosexuelle?

Diese Gesetze sind ganz richtig. Der Liberalismus besteht auf Freiheit und Befreiung von jeder Form der kollektiven Identität. Darin liegt die Wesenheit des Liberalismus. Die Liberalen haben die Menschen bereits von ihrer nationalen Identität, ihrer religiösen Identität und so weiter befreit. Die letzte Form von kollektiver Identität ist die Geschlechteridentität. Es ist daher an der Zeit, diese abzuschaffen, indem man sie als gewillkürt und optional ausgibt.

Die absolute Mehrheit der russischen Bevölkerung ist gegen diese Idee und nimmt gegenüber der kollektiven Identität im Allgemeinen und der Geschlechteridentität im Besonderen eine konservative Haltung ein.

Putin kämpft mit solchen Gesetzen nicht gegen homosexuelle Beziehungen, sondern gegen die Transformierung der liberalen Ideologie in zwingendes Recht, also gegen die Normierung und juristische Legitimierung dessen, was man in Russland als eine moralische und psychische Perversion ansieht.

Was halten Sie von der westlichen Reaktion auf Russlands Gesetze gegen Homosexuelle? Kann diese Reaktion dem Image Russlands schaden?

Russland ist kein liberales Land und will es auch nicht sein. Die Liberalen mögen also ruhig kritisieren.

Es gibt auf der anderen Seite auf der Welt viele nicht-liberale und konservative Gesellschaften und Gruppierungen, die der russischen Position in diesem Bereich zustimmen. Die politischen Eliten des Westens protestieren dagegen, dass Russland im Gender-Bereich für Normen gemäß einer geraden Linie optiert hat. Aber aus eben demselben Grund sind es die breiten Massen in den westlichen Ländern, welche Putin und Russland unterstützen.

Sie schrieben einmal in einem Artikel für die Financial Times, dass die Welt Putin verstehen müsse, aber wie kann die Welt das tun?

Putin zu verstehen ist das gleiche, wie das Andere zu verstehen. Russland ist das Andere. Wir haben andere Werte, eine andere Geschichte, andere Ideen, andere Sitten, eine andere Anthropologie und eine andere Gnosis als der „moderne“ liberale Westen.

Wenn der Westen seine eigenen Werte mit den allgemein Werten identifiziert, dann ist es unmöglich, Putin zu verstehen.

Soll der Westen Putin kritisieren und ihm Vorwürfe machen, wenn er anders (als der „moderne“ Westen) denkt und anders agiert. Entweder man akzeptiert, dass Andere anders sind – in diesem Fall wäre Ihre Frage sehr ernst zu nehmen und die Antwort darauf verlangt fundierte Kenntnisse der russischen Geschichte und der russischen Kultur. Oder aber es handelt sich um eine rein rhetorische Frage, die dem Anderen gar nicht die Chance einräumen will, sein Anderssein positiv zum Ausdruck zu bringen.

Dies führt letztlich dazu, dass man den Anderen hassen muss. Wir sind für den Dialog bereit, und zwar auf der Grundlage eines gegenseitigen Verständnisses füreinander. Aber wir sind auch gegenüber den Hassgefühlen des Westens vorbereitet.

Wir kennen sehr wohl die eurozentrischen, kultur-rassistischen, universalistischen und imperialistischen Allüren des Westens im Umgang mit Anderen.

Es ist daher wirklich besser zu versuchen, uns zu verstehen. Versuchen Sie unsere Klassiker aufmerksam lesen … Versuchen Sie, die Bedeutung unserer christlich-orthodoxen Philosophie, Theologie und Mystik zu verstehen, unsere Heiligen, unsere Dichter und unsere Autoren (Dostojewski, Puschkin, Gogol). Sie werden dann sicherlich fanz einfach den Zugang dazu finden, Putin zu verstehen, Russland zu verstehen, und uns alle zu verstehen.

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Über Alexander Dugins wichtigstes am deutschen Büchermarkt erschienenes Buch, die „Vierte Politische Theorie“: 

Alle politischen Systeme der Moderne sind die Ergebnisse dreier unterschiedlicher Ideologien: Die erste und älteste ist die liberale Demokratie, die zweite ist der Marxismus und die dritte ist der Faschismus. Die zwei letzteren sind längst gescheitert und aus der Geschichte ausgeschieden; die erstere fungiert nicht mehr als Ideologie, sondern als etwas Selbstverständliches. Die Welt befindet sich heute am Rand einer postpolitischen Realität, in der die Werte des Liberalismus so tief eingewurzelt sind, daß sich der Durchschnittsmensch der Wirkung einer Ideologie in seiner Umwelt gar nicht bewußt ist. So droht der Liberalismus den politischen Diskurs zu monopolisieren, die Welt mit einer universalistischen Gleichheit zu überschwemmen und alles zu vernichten, was die verschiedenen Kulturen und Völker einzigartig macht. Laut Alexander Dugin bedarf es, um diesem Schicksal zu entgehen, einer vierten Ideologie, welche in den Scherben der ersten drei nach etwaigen brauchbaren Elementen sucht, doch selbst innovativ und einzigartig bleibt. Dugin bietet für diese neue Theorie nicht Punkt für Punkt ein Programm, sondern zeichnet in Umrissen den Rahmen, in dem sie sich entwickeln könnte und die Thematik, die sie behandeln muß. Die Vierte Politische Theorie soll die Mittel und Begriffe der Moderne gegen sie anwenden, um gegenüber der Kommerzialisierung eine Rückkehr der kulturellen Vielfalt, der traditionellen Weltanschauungen aller Völker der Welt zu zeitigen – und das in einem völlig neuen Kontext. Geschrieben von einem Wissenschaftler, der die Ausrichtung heutiger russischer Geopolitik aktiv beinflußt, ist Die Vierte Politische Theorie eine Einführung in eine Idee, die die politische Zukunft der Welt verändern könnte.

 

http://freies-oesterreich.net/2014/07/31/der-lange-weg-ein-interview-mit...