Einführung in die Noomachie (Vierte Einheit) – Der logos der Kybele
Haupt-Reiter
Um besser verstehen zu können, wie die indoeuropäische Kultur in ihre sedimentäre Phase eintrat und was während dieses Wandels sowie der Veränderung der Struktur im Moment der Noomachie passierte, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie der Existenzhorizont um Turan herum aussah.
Die turanischen Stämme zogen also nach Osteuropa, Anatolien, den Balkan, in das Gebiet von Elam im Iran (Persien) und in den indischen Raum. Doch diese Räume waren weder leer noch unbewohnt. Dort existierten andere Zivilisationen mit einem Existenzhorizont der anderen Art und damit in einem eigenen Moment der Noomachie. Was waren diese präindoeuropäischen Zivilisationen Europas, des Balkans, Anatoliens, Persiens und Indiens? Ich folge hier, genauso wie in der ersten und der letzten Vorlesung, dem Konzept von Marija Gimbutas, welche annimmt, dass vor der Ankunft der Indoeuropäer in Anatolien, dem Balkan und Europa eine sehr alte Zivilisation der Großen Göttin existierte.
Marija Gimbutas zufolge, gehörten Lepenski Vir, Vina, Karanavo Gumelnița und andere Ausgrabungsstätten zur Zivilisation der Großen Mutter. Diese Zivilisation wiederum ähnelte sehr stark der Ausgrabungsstätte in Çatalhöyük, welches in Anatolien in der heutigen Türkei liegt. Die ältesten Ebenen dieser Zivilisation reichen bis in die Zeit 7.000 bis 8.000 Jahre vor Christus zurück. Die ersten Wellen der turanisch indoeuropäischen Populationen hingegen waren 3.000 Jahre vor Christus zu verzeichnen. Somit existierte diese Zivilisation bereits vor dem Auftauchen der Indoeuropäer. Im Falle Europas existiert der Name oder das Konzept „Alteuropa“ bzw. „Paläoeuropa“ (Paläo ist das griechische Wort für „alt“). Das Zentrum dieser Zivilisation befand sich Gimbutas zufolge auf dem Balkan, weil die ältesten Funde und Ausgrabungsstätten genau dort aufgedeckt wurden, genauer gesagt auf dem Gebiet Serbiens und Bulgariens und dort in der Gegend: in Karanovo, Starčevo, Tisza, Körös und Pannonien. Und diese Zivilisation war die Zivilisation der Mutter. Wir sehen feminine Figuren und keine männlichen Statuetten sowie das Konzept der Gräber ohne Waffen. Dies waren altertümliche Agrargesellschaften sedimentären Typs mit einer komplett anderen Struktur als die turanisch-indoeuropäischen Stämme.
Ich schlage auch vor, den Autor Bachofen zu lesen, der ein Buch mit dem Titel „Das Mutterrecht“ geschrieben hat, ein klassisches und absolut notwendiges Werk. In dieser im 19. Jahrhundert abgefassten Schrift hat er alle matriarchalen Themen in der Tradition der griechischen Zivilisation und der anatolischen Zivilisationen behandelt: Lydier, Lykier, Karianer, Phryger, Hattier und so weiter. Wenn wir in Bachofens opus magnum, bei Marija Gimbutas oder vielen anderen Autoren nachschlagen, handelt es sich dabei fast um Allgemeinwissen. Heute finden Debatten darüber statt, wer die Paläoeuropäer gewesen sind. Welche gegenwärtigen Völker sind ihre Nachfahren? Am wahrscheinlichsten ist, dass die präindoeuropäische Population aus den Etruskern, den Hattiern (prä-Hethiten) bestand und die gegenwärtigen kaukasischen Populationen der Georgier, Dagestanis, Avaren, Tschetschenen und Abchasier die Nachfahren dieser präindoeuropäischen Populationen darstellen.
Wichtig ist, dass jeder darin übereinstimmt, dass vor den Wellen der turanisch indoeuropäischen Kurgankultur eine andere Zivilisation mit einem anderen logos existierte. Wenn wir nun diesen logos nicht nur in seinen Symbolen, sondern auch durch einige Sagen rekonstruieren, welche in der Zivilisation der europäischen Hethiter, der Phryger, der Hellenen oder der Lateiner wurzeln, können wir die Hauptmerkmale dieser präindoeuropäischen Kulturen wiederherstellen.
Die Hauptmerkmale dieser Kultur waren wie folgt: Zuallererst handelt sich bei ihr um eine chthonische, erdgebundene Zivilisation. Es gibt hier keine Vorstellung von einem himmlischen Vater oder dem Licht das vom Himmel herabkommt. Stattdessen gibt es die Geburt der Großen Mutter. Sie ist die Große Mutter der Erde und des Wassers, welche allen Wesen das Licht geschenkt hat. Die Logik ist also völlig konträr. Es gibt hier eine Art primordiale Substanz, die alles andere gebiert. Die Figur der Mutter wird in den ältesten Darstellungen mit einem sehr realistisch beschriebenen Unterkörper dargestellt, aber ohne Kopf, Gesicht oder Hände. Der obere Teil des Körpers wird deswegen nicht beschrieben, weil er nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Der gebärende Schoß der Großen Mutter war das Zentrum der Aufmerksamkeit, weil er den Ursprung und das Ende darstellte. Er war sowohl das Grab als auch die Wiege. Dies war das Zentrum dieser Zivilisation und der Mittelpunkt ihrer Sakralität.
Auch diese Zivilisation hatte große Städte mit Kulten und sakralen Plätzen in ihrem Zentrum, aber ohne Mauer. Dabei handelte es sich um eine ganz andere Art Stadt. Die indoeuropäischen Städte hatten im Vergleich dazu Stadtmauern. Diese waren ein Zeichen dafür, dass es sich um eine militärische Konstruktion handelte. Sie wurde nicht aus dem sedimentären Dorf entwickelt oder wuchs aus einem anderen Dorf heraus, sondern verkörperte ein künstlich geschaffenes etwas um einen Raum zu erobern. Es gibt also zwei Arten von Städten: Indoeuropäisch-turanisch (mit Mauern) und ohne Mauern (logos der Kybele). Die Stadt ohne Mauern als etwas Friedliches, Sedimentäres und Agrarisches. Dies von Frauen geschaffene Agrarkultur war ein weiteres Zeichen davon. Es gibt zum Beispiel den Begriff „Hacke“ , der ein Werkzeug zur Vorbereitung des Feldes für den Samen bezeichnet, welches ein rein weibliches Werkzeug war, da die Erde von den Frauen bebaut wurde. Dies lag daran, da sie mit der Erde verbunden waren und als Mutter, als Schöpferin betrachtet wurden. Und sie bearbeiteten die Erde mit diesen Hacken. Diese waren leicht und daher ohne große Anstrengungen zu verwenden und, es wurden bei der Feldarbeit keine Tiere zur Hilfe verwendet. Hier haben wir also den reinen Typus einer Zivilisation, die auf einer ganz anderen Struktur gründete. Wir haben es hier mit einer sedimentären, nicht mit einer nomadischen Zivilisation zu tun, einem Matriarchat, nicht mit einem Patriarchat, chthonisch, nicht himmlisch. Sie gründete auf der Verehrung der Mutter, nicht auf der Verehrung des Vaters. Die Mutter ist irdisch, der Vater ist himmlisch. Es gibt keinen himmlischen Vater in dieser kybelischen Zivilisation reinen Typs. Es gibt nur eine Mutter die erschafft, ernährt, zerstört und wieder gebiert. Es geht also alles von der Mutter aus und kehrt wieder zur Mutter zurück. Dadurch kommt es zu einem gänzlich anderen Bild des Kosmos, indem der innere Raum der Erde das Zentrum darstellt. Es ist etwas Verborgenes und nicht der offene Raum des Himmels, es ist nicht das Feuer, es ist das Wasser. Es ist nicht der Tag, es ist die Nacht. Es ist nicht offen, sondern geschlossen. Es ist nicht männlich, es ist weiblich, etwas das im Inneren entspringt, da die Frau von innen nach außen gebiert.
Der Bauch der Frau ist das Abbild des Kosmos, der Welt. Und diese Welt ist ganz anders aufgebaut. Es ist eine andere Welt: Das Zentrum ist nicht oben, es ist unten, unter der Erde. Die Erde stellt keine harte Oberfläche dar und es ist möglich in sie hinab zu steigen und wieder an die Oberfläche zurückzukommen. Das ist eine ganz andere Sichtweise. Dies ist für die platonische Weltsicht unvorstellbar, weil es nicht der Weltsicht des Platonikers entspricht. Es ist ein komplett anderes Weltbild, mit anderen Verhältnissen. Es gibt Wurzeln, Bäume, welche aus der Erde wachsen, nicht aus dem Himmel. Alles geht von einer Konstruktion aus, die in der Erde ihren Ursprung hat, im Untergrund. Es ist nicht die Einäscherung, sondern das Begräbnis, irdisch, nicht himmlisch. Das ist das Königreich der Mütter und nicht das der Väter. Aber es steht nicht in direkter Opposition zu ihm, sondern ist eine andere Perspektive. Wir erhalten das Konzept des Matriarchats zum Beispiel nicht einfach, indem wir beim Patriarchat das Plus mit einem Minus vertauschen. Wir haben es hier mit etwas ganz anderem zu tun. Das Patriarchat der indoeuropäischen Zivilisation gründet zum Beispiel auf der Linie oder dem Sonnenstrahl. Aber hier baut alles auf der Kurve oder der Spirale auf. Sie gehen ins Zentrum der Erde. Sie töten nicht durch direkte Treffer, sondern locken ihr Opfer in eine Falle und erdrosseln es sanft. Die Kehle wird nicht mit einem radikalen Schnitt durchtrennt, das Opfer wird vielmehr ohne viel Aufsehen und komfortabel erwürgt. Wir haben es hier mit einem ganz unterschiedlichen Konzept von Leben und Tod zu tun. Hier haben wir keine unsterbliche Seele die vom Himmel hinabsteigt, die selbe Substanz wird immer wieder geboren und findet immer wieder den Tod, sie wird jedes mal auf eine andere Art zusammengesetzt. In einer matrilinearen Gesellschaft wird die Zugehörigkeit zur Familie über die Mutter definiert, der Vater ist entweder unbekannt oder nicht so wichtig, weil der Vater nicht das Leben gibt. Die Mutter schenkt das Leben. Und in einigen radikalen Fällen gibt es gar keinen Vater, weil die Idee, das der Vater mit der Empfängnis des Kindes in Verbindung steht eine patriarchalische Konzeption ist. Im Matriarchat war es die Frau die dem Kind das Leben schenkte, indem sie Umgang mit geflügelten Kreaturen, Schlangen oder unsichtbaren Geistern wie dem Inkubus hatte, welche in der Nacht in ihren Träumen erschienen. Die Empfängnis des Kindes wurde also als etwas sehr besonderes betrachtet, wofür die Hilfe des Vaters nicht nötig war. Der Vater war in ihr nicht von besonderer Wichtigkeit.
Die Figur der Großen Mutter wurde von zwei Tieren umgeben. Zwei Bestien, eine zur linken und eine zur rechten der Großen Mutter. Schritt für Schritt nahmen sie menschliche Züge an. Sie waren halb Mensch halb Bestie und wurden schließlich zum Menschen. Der Mensch entwickelte sich also aus dem Affen, aus dem Tier. Die Schöpfung erfolgte somit aus der Materie, der Substanz, der matriarchalen Lebensquelle. Wir finden hier auch einen gänzlich anderen Symbolismus vor. Die Schlange stand für das Männliche in dieser Situation, dem einzigen Konzept des Männlichen, etwas das innerhalb der Großen Mutter lebte und manchmal auch als Fisch dargestellt wurde. Sowohl der Sohn als auch der Ehemann wurden von der Schlage dargestellt, die in der Großen Mutter lebte, im Untergrund und immer wieder an der Oberfläche auftauchte und wieder verschwand. Die Schlage war zwar mit einer absolut positiven Bedeutung konnotiert, aber sie stellte gleichzeitig das abwesende Männliche dar, weil im Konzept dieser rein matriarchalischen Weltanschauung, wie sie etwa im phrygischen Mythos der Kybele repräsentiert wurde, das Konzept des weiblichen Androgynen existierte, welches im Griechischen den Namen Agdistis trug. Sie war weiblich, aber warum androgyn? Weil sie niemanden brauchte, um ein Kind zu empfangen, also war sie auch der Vater. Das ist das Konzept des Sie-Vaters Agdistis im griechischen Mythos. Und genau diese Agdistis gebar Attis, den anatolischen Helden. Und obwohl sie die Mutter des Attis war, verliebte sie sich in ihren Sohn. Die inzestuöse Beziehung zwischen der Mutter und dem Sohn ist ein grundlegendes Merkmal des matriarchalischen Zyklus und seiner Erzählung. Aber als Attis aufwuchs, wollte er eine normale, menschliche Frau heiraten. Damit provozierte er große Eifersucht und Rachegelüste bei der Großen Mutter, die ihn mit Wahnsinn strafte, woraufhin er sich selbst kastrierte und starb. Aber zur gleichen Zeit wurde Kybele, wie Agdistis nach seiner Entmannung genannt wurde, in diesem Mythos von Traurigkeit über den Tod Attis erfasst und erweckte ihn wieder zum Leben. Attis wurde schließlich zu ihrem Priester. Das war der Ursprung der entmannten und kastrierten Priesterschaft der Großen Mutter, ebenso wie ihrer Orgien. Wir hatten es hier also mit einer friedlichen Zivilisation des sedimentären Typs zu tun, die Blutopfer darbrachte, da das Blut der männlichen Priester als Nahrung für die Erde diente und den Feldfrüchten beim Wachsen half.
Wir können hier den Existenzhorizont des alten Europas (des vorturanischen Europas) mit Zentren der Zivilisation, mit Städten, Feldern, Keramiken, vielen Objekten einer sehr entwickelten Zivilisation, Gottesdiensten, Kulten und Tempeln der Großen Mutter erkennen. Im Süden finden wir Spuren von ihr im Stein, aber wir können uns nur vorstellen wie diese Zivilisation ausgehen hat, da all ihre Gebäude aus Holz waren. Ein großes Zentrum von ihr könnte am Balkan und anderen Plätzen bestanden haben. Das interessante an Lepenski Vir ist, dass die Menschen welche um es herum leben das selbe Mehl seit der Zeit der Lepenski Vir Kultur vor mehr als 5-6.000 Jahren vor Christus produzieren. Die Serben welche als Dorfbewohner und Bauern in der selben Umgebung leben, produzieren bis heute das gleiche Mehl. Es ist sehr interessant zu sehen wie konstant und stabil diese Strukturen sein können.
Zur gleichen Zeit treten viele Ebenen der Mythologie der Großen Mutter in die patriarchalische Gesellschaft ein, in die griechische Mythologie. Auch die Idee der Kastration des Cronos durch Zeus ist ebenfalls ein Teil des matriarchalen Zyklus, ebenso wie die Entmachtung des ältesten Titanen durch den patriarchalen Zeus. Die Titanen waren matriarchalische Figuren der Menschen in der vorhergehenden Tradition. All diese Themen sind sehr stabil und finden sich bis in die Gegenwart in der Mythologie und den Volkssagen wieder. Zum Beispiel hat der italienische Autor Gasparini bereits drei Bände „Über das slawische Matriarchat” geschrieben und dabei viele matriarchalische Aspekte in der slawischen Tradition entdeckt: Auf dem gesamten Balkan bei den Serben und Bulgaren, aber auch bei den Russen sowie Tschechen und so weiter. Wir können diese Themen trotz Jahrtausenden der Dominanz der patriarchalischen indoeuropäischen Kultur vorfinden. Wir sind also dazu verpflichtet anzuerkennen, dass wir es im Fall der europäischen Gesellschaft mit zwei Ebenen zu tun haben. Zwei Existenzhorizonte: Einen haben wir als turanisch oder indoeuropäisch identifiziert und im Großen und Ganzen seine Hauptmerkmale beschrieben, die Struktur der Vertikalität im indoeuropäischen Wertesystem. Als die indoeuropäischen Stämme ihre nomadische Tradition auf dem Weg durch die Steppen Turans bewahrten, besaßen sie nicht die zweite Ebene. Sie besaßen nur eine Ebene, nämlich ihre patriarchalische Zivilisation, aber als sie den Dnjepr überwanden fanden sie dahinter die Cucuteni–Tripolje Kultur matriarchalen Typs. Und dies schuf eine Mischung zwischen zwei Existenzhorizonten, einem Moment der Noomachie, einer Begegnung zwischen dem logos des Apolls, repräsentiert durch den indoeuropäischen Gesellschaftstyp, trifunktional und patriarchalisch, mit dem logos der Kybele, repräsentiert durch die paläoeuropäische Zivilisation die hinter dem Dnjepr lebte. Sehr interessant ist, dass Marija Gimbutas bestätigt, dass die Grenze zwischen beiden Zivilisationen genau hier für viele Jahrtausende verlief. Der Dnjiepr auf der östlichen Seite war turanisch und auf der westlichen Seite begannen die Königreiche der Großen Mutter.
Im Fall von Anatolien/Kleinasien, hatten wir es mit demselben Typ einer paläoeuropäischen Population zu tun, aber im Osten existierte eine andersgeartete dravidische Population. Doch diese dravidische Population des alten Iran war genauso wie die präindoeuropäische Bevölkerung und jene des alten Indiens matriarchalisch. Sie unterschieden sich wahrscheinlich nur im Phänotyp. Man geht davon aus, dass sie eine dunkle Haut hatten und vielleicht nur ein dünklerer Typ der selben Paläoeuropäer waren, möglicherweise waren sie aber auch ganz anders. Von einem noologischen Standpunkt aus interessant ist, dass sie zum logos der Kybele gehörten, dass wir auch in Indien unter der Ebene der indoeuropäischen Zivilisation vorfinden konnten. In Indien ist es offensichtlich dass es eine vedische Ebene der Zivilisation und eine prävedische gibt, die matriarchalisch und chthonisch ist sowie in ihrem Zentrum Titanen und weibliche Gottheiten hat.
Gleichsam können wir Spuren dieser matriarchalischen Zivilisation in Italien, Spanien und den Britischen Inseln finden. Auf der iberischen Halbinsel finden wir die baskische Zivilisation, die ihren Ursprüngen nach dem matriarchalen paläoeuropäischen Typ angehört. Jede Art von sedimentärer indoeuropäischer Zivilisation die wir heute kennen ist das Resultat der Mischung zweier noologischer Typen: Der Mischung des Patriarchats und des logos des Apolls verbunden mit der indoeuropäischen Ebene und etwas anderem, einen präindoeuropäischen Existenzhorizont. Wir beschäftigen uns hier nicht nur mit der Gegenwart, weil der Existenzhorizont etwas ist, das im hier und jetzt fortlebt und eben nicht etwas ist, dass zum materiellen Aspekt der Dinge gehört. Der Existenzhorizont ist etwas, das im hier und jetzt lebt. Wir finden also diesen anderen, sehr tief verwurzelten und versteckten matriarchalischen Existenzhorizont der paläoeuropäischen Zivilisation vor, welcher eine Art Grundlage für die sedimentäre indoeuropäische Gesellschaft bildete. Das ist die wichtigste Erkenntnis der noologischen Analyse der indoeuropäischen Kultur. Jede indoeuropäische Gesellschaft baut auf der Überlagerung zweier Existenzhorizonte auf, also hat jede existierende indoeuropäische Kultur (keltisch, germanisch, französisch, italienisch, spanisch, slawisch, griechisch, iranisch oder indisch) zwei Existenzebenen. Sie basieren auf der Titanomachie, der Noomachie repräsentiert durch den Kampf zwischen dem logos des Apoll und dem versteckten, vernachlässigten und ignorierten, man könnte sagen geheimen, logos der Kybele.
Friedrich Jünger sagte, dass die Ordnung der olympischen Götter auf den Schultern und Köpfen der Titanen errichtet worden war. Die indoeuropäischen Gesellschaften wurden also nicht aus dem Nichts erschaffen oder über einer Leere, sondern es sind die Titanen, welche an der Basis der heroischen indoeuropäischen Gesellschaften leben. Dies ist ein lebendiger kybelischer Existenzhorizont den wir in der europäischen Tradition, den Volkssagen, Mythen, Religionen, Riten und der Psychologie finden können. Unsere Tradition ist eine doppelte. Offiziell sind wir Indoeuropäer. Wir haben eine patriarchalische vertikale Struktur in der Gesellschaft. Aber im Geheimen, in der Nachtphase unserer Gesellschaft, sind wir matriarchalisch. Wir gehören diesem Existenzhorizont der Großen Mutter an mit seiner friedlichen, pazifistischen und demokratischen, bis zu einem gewissen Grad matriarchalischen und nicht von der vertikalen männlichen Dominanz geprägten, viel milderen Gesellschaft. Unsere Identität als indoeuropäische Völker und Kulturen ist daher immer eine doppelte, im wesentlichen zweifache Identität.
Ohne diese zweite, präindoeuropäische Ebene können wir nichts in unserer geschichtlichen Sequenz erklären, weil unsere europäische Geschichte, iranische Geschichte und indische Geschichte im fortgesetzten Kampf zwischen den beiden logoi besteht. Das ist unser Moment der Noomachie. Der logos des Apoll überwand den logos der Kybele und dies war das Hauptereignis als die turanischen Nomaden die sedimentären Gesellschaften eroberten. Sie erschufen etwas neues, eine neue Gesellschaft. Sie war offiziell indoeuropäisch, aber im Geheimen war sie es nicht. Das ist der Unterschied zwischen Iran und Turan. Der Iran hatte diesen matriarchalischen Horizont und Turan hatte ihn nicht. Der Kampf des Iran gegen Turan bei Ferdowsi oder in der Avesta oder im ethno-soziologischen beziehungsweise im noologischen Sinn ist etwas anderes, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Es ist die sedimentäre Natur der indoeuropäischen Gesellschaft, die uns die Unausweichlichkeit und Notwendigkeit des Aufeinandertreffens und der Assimilation dieses zweiten Existenzhorizontes, dieses zweiten Daseins, aufzeigt. Und dieses Dasein wurde erobert, unter Kontrolle gebracht und domestiziert. Dies war die Domestikation der Kybele, eine Art Eroberung der weiblichen Macht. Indem er die weibliche Macht unterwirft, wird der Mann zum Herrscher. Doch ist das Patriarchat das Ergebnis eines sehr gewaltsamen Kampfes der bis heute fortgeführt wird, weil wir in sedimentären Gesellschaften leben, die in ihrem Inneren die Kulturen des matriarchalen logos der Kybele in sich tragen, welche nicht der Vergangenheit angehören. Wir leben also in einer Zwei-Ebenen-Gesellschaft in welcher die Titanomachie, der Krieg zwischen Göttern und Titanen, zwischen Indoeuropäern und Präindoeuropäern, noch immer tobt. Dies ist der wichtigste Fakt dieser noologischen Analyse: Wir haben es mit Zwei-Ebenen-Gesellschaften zu tun und nicht mit einer Ein-Ebenen Zivilisation wie bei der trunaischen Gesellschaft.
Indem wir dieser Spur folgen, kommen wir auf einen sehr vielversprechenden Pfad in dem wir die Dritte Funktion nach Dumézil analysieren. Wir kehren jetzt zur trifunktionalen Theorie zurück. Wir sehen hier das Priester und Krieger zur Herrschenden Klasse in den sesshaften indoeuropäischen Gesellschaften wurden. Die Krieger und das Militär sind noch immer turanisch, auch unsere Priester sind noch immer Turaner. Sie sind männliche Asketen, Priester und Krieger. Bis hinein in unsere Gegenwart sind unsere christlichen Priester und die Armee moralisch und metaphysisch turanisch geblieben. Sie sind noch immer eine rein patriarchale Gesellschaft und wurden von der Sesshaftigkeit nicht so stark beeinflusst. Sie fuhren damit fort, Festungen zu bauen, einen Kult der Sonne, des Vatergottes und des Sonnengotten zu betreiben. Sie verteidigten weiterhin das hierarchische System unserer Staaten, welches eine Fortsetzung der vertikalen Struktur darstellt. Die Priester und Krieger zwangen ihre Sprache den unterworfenen Völkern auf, ebenso wie ihre indoeuropäische Ideologie. Wir leben unter der indoeuropäischen Ideologie mit einer herrschenden Klasse als Erben dieser turanischen Eroberer und Streitwagenlenker. Und unsere gesamte Kultur, Bildung, Philosophie, Ethik, Ästhetik des Lichts, all das beweist, dass wir offiziell in einer apollinischen Gesellschaft leben.
Wenn wir nun zur dritten Funktion innerhalb dieser turanischen Gesellschaft vom reinen Typ des apollinischen logos zurückkehren, stoßen wir auf die nomadisierenden Viehzüchter. Diese Menschen kümmern sich um große Tiere, Stiere, Kühe und Pferde. Um diese riesigen, großen Tiere kontrollieren zu können müssen Sie sehr stark sein und genug Platz haben um sie füttern zu können. Die Viehzüchter benötigen also den offenen Raum, das Feld und einen starken, männlichen Hirten. Aber in Folge der sesshaften Lebensweise wurden die Viehzüchter zu einer ökonomischen Kaste, weil die Krieger nur zerstören und konsumieren konnten, sie produzierten nichts. Aber auch die Priester produzierten nichts. Alles was produziert wurde, die gesamte Wirtschaft lag in den Händen der Viehzüchter und Hirten. Sie waren die Herren des materiellen Aspekts. Sie gaben das Essen und alle anderen Produkte den Herren, Häuptlingen, Führern, Kriegern und Priestern. Jedoch waren sie durch die Viehzucht nur mit dem Vieh beschäftigt. Die Viehzüchter und Hirten waren eine ökonomische Klasse. Als die Indoeuropäer die sesshafte Gesellschaft eroberten, inkludierten sie in dieser dritten Kaste die gesamte sesshafte Gesellschaft. Die Bauern waren der Haupttyp dieser matriarchalischen Gesellschaft, jedoch waren die Bauern in dieser rein matriarchalischen Gesellschaft Frauen. Nun findet ein Wandel in den Geschlechterrollen dieser sesshaften Gesellschaft statt, weil die Frau durch den Mann ersetzt wird, die Frau mit der Hacke durch den Mann mit dem Pflug. Zuvor wurde das Feld von der Frau selbst bearbeitet, nun wurde dies von den Tieren mit dem schweren Pflug erledigt (dem domestizierten Pferd, der Kuh oder dem Stier), welche für die Frau unmöglich zu beherrschen waren. Am Ende des Pfluges wurde ein eisernes Stück verwendet, die Beziehung zur Erde war also nicht mehr sanft oder milde, sondern von Gewalt geprägt. Und das ist die Erscheinung der männlichen Figur in der Landwirtschaft, des männlichen indoeuropäischen Bauern der die zuvor weiblichen Bauern der präindoeuropäischen Gesellschaft ersetzte. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, war das sehr wichtig, weil es den Wechsel vom Vieh zum Getreide, dem Weizen und den Pflanzen bedeutete. Diese bedeutete auch weiters die Assimilation und die Schaffung einer Mischung aus der Dritten Funktion der rein turanischen Gesellschaft mit der ökonomischen und sozialen Struktur der paläoeuropäischen Gesellschaft.
Wir haben hier also eine sehr interessante Idee vorliegen, nämlich dass die Ursprünge der europäischen Bauernschaft, aller sesshaften Bauern in Europa, auf dem Balkan und in Anatolien lagen (die germanischen, keltischen und lateinischen Bauern einschließend). Sie kamen indirekt von den ersten Zentren dieser matriarchalischen Zivilisationen der Großen Mutter auf dem Balkan und in Anatolien und danach begann ihre Expansion in ganz Europa. Darauf folgte die Welle, welche die ersten gemischten Gesellschaft in Europa schuf und nach dem sedimentären Europa die indoeuropäische Gesellschaft mit einer Bauernschaft hervorbrachte. Aber die Ursprünge und Quellen dieser alten europäischen Bauernschaft waren balkanisch und matriarchalisch. Und wir können das sehr interessante Konzept des bäuerlichen Dasein Europas einführen. Diese bäuerliche Tradition repräsentierte im Laufe der Geschichte die absolute Mehrheit unseres Volkes, weil die Adeligen, Priester und Krieger eine Minderheit waren. Die Mehrheit der Menschen bestand immer und während allen Phasen aus Bauern, die einen sehr ernsten und wichtigen Aspekt der indoeuropäischen Tradition repräsentierten. Es gibt also eine Fortsetzung der Tradition der Großen Mutter in der europäischen Bauernschaft. Das erklärt auch, warum wir in unseren Volkssagen und Traditionen so viele matriarchalische Themen und Figuren finden, sowohl offenliegend als auch versteckt. Auf der Ebene der europäischen Bauern, als Teil der Dritten Funktion der indoeuropäischen Gesellschaft, wurden viele Geschichten über Schlangen, Königinnen, Feen, Rusalkas und anderen Typen weiblicher Geister verschiedenster Art, gut und böse, integriert. Alle davon waren eine Art Spiegel oder Funken der Figur der Großen Mutter.
Wichtig ist hierbei, dass die europäischen Stämme im Moment ihrer Sesshaftwerdung diese Dimension assimilierten und damit auch ihren Existenzhorizont und ihre Struktur. Offiziell gab es also einen historischen Pakt zwischen den Siegern und den Verlierern. Die Zivilisation der Großen Mutter hatte ihren titanischen Kampf gegen die Götter verloren. Auf diesem Sieg gründen alle geschichtlichen Folgen für die europäische Geschichte, der Geschichte davon wie die Turaner Alteuropa erobert hatten, die paläoeuropäische Zivilisation, worauf unser ganzes Ethiksystem aufbaut. Doch der eroberte Existenzhorizont ist immer noch am Leben und lebt innerhalb unserer Gesellschaft, in der Dritten Funktion, welche die Mehrheit unserer Gesellschaft darstellt, fort. Wir könnten versuchen die Geschichte der europäischen Bauernschaft neu zu schreiben, als jene einer besonderen Zivilisation, eingebettet in unserer offiziellen Zivilisation. Unsere normale Geschichte besteht aus den Taten unserer Heiligen, unserer Könige, unserer Aristokraten. Wir feiern nur die höchste Ebene: Die ersten beiden Funktionen der indoeuropäischen Gesellschaft. Wir wissen fast nichts über das Alltagsleben oder die Denkweise oder die Ideologie unserer Bauernschaft. Erst als es eine Art Renaissance der nationalen Tradition im Kampf gegen das Mittelalter und den Feudalismus gab, begannen wir Folklore zu sammeln. Dies geschah erst vor kurzem im 18. und 19. Jahrhundert. Infolgedessen haben wir entdeckt, dass es eine riesige Menge an Informationen in den Geschichten und Themen gibt, ein enorm großes Universum der archaischen bäuerlichen Tradition. Und nun kennen wir sie. Aber im Mittelalter war all das außerhalb der Interessensphäre der gelehrten Kasten der Population.
Wir können dieses bäuerliche Universum als den Schnittpunkt zwischen zwei Existenzhorizonten identifizieren. Hier findet ein Aufeinandertreffen zwischen dem patriarchalen Horizont mit der männlichen Figur die Körner und Samen sät und dem Matriarchat statt, aber in Osteuropa war es noch bis ins 19. Jahrhundert ein Privileg der Frauen die Feldfrüchte zu sammeln, nicht mit großen Werkzeugen, sondern mit Sicheln und Sensen. Nur die Gräser durften von den Männern für das Vieh geschnitten werden, wozu sie verpflichtet waren. Dies stellt eine Fortführung der altertümlichen weiblichen Tradition dar. In Serbien gab es zum Beispiel spezielle Riten, wenn lange kein Regen fiel. Die Frauen sollten hierzu besondere Riten jenseits der Sichtweite der Männer, außerhalb des Dorfes durchführen. Viele Traditionen sind mit diesem matriarchalischen Aspekt verbunden.
In unserer europäischen Tradition haben wir zwei Existenzhorizonte und zwei Dasein. Einer davon ist der logos des Apoll, repräsentiert durch die offizielle Ideologie, die trifunktional ist und der andere ist der logos der Kybele. Dieser besteht vor im Schatten fort, in unserem Unterbewusstsein, in der Tradition der Mutter. Er ist Teil der zweiten, parallelen, versteckten und geheimen Ideologie. Er ist nicht die Leere. Er ist eine Ideologie, die in unseren Gesellschaften gegenwärtig ist, aber nicht offensichtlich, nicht explizit. Er ist der implizite logos der Kybele, der immer noch am Leben ist, weil wir in einer Gesellschaft leben, von der ein großer Teil noch immer aus der Landwirtschaft besteht, da wir sesshaft sind und ihre Produkte essen. Diese Ebene können wir individualisieren und auf den logos der Kybele anwenden, denn der logos der Kybele existiert in uns selbst, weil unsere Gesellschaft zum Teil genau auf diesem Moment der Noomachie gründet. Aber die Noomachie ist ein fortlaufender Prozess. Wir können nicht ein für allemal den Sieg in der Noomachie einem logos zugestehen. Wenn der logos des Apolls schwächer wird, bedeutet das, dass der andere Pol stärker werden wird. Wenn sich das Patriarchat auflöst (was gegenwärtig in der Moderne der Fall ist) beginnt die Gegenströmung aufzutauchen, mehr und mehr explizit, nicht implizit. Dabei handelt es sich um das wichtigste Ergebnis dieser noologischen Analyse.
Wenn wir darüber reden, müssen wir nun die zwei Existenzhorizonte definieren, welche jeder indoeuropäischen Gesellschaft gemein sind. Wir erkennen, dass dies in der absoluten Mehrheit der europäischen Gesellschaften der Fall ist, aber es gibt Ausnahmen. Eine davon ist die phrygische Kultur, weil es genau in der phrygischen Gesellschaft einen Kult der Großen Mutter Kybele gab. Kybele wurde also in einer indoeuropäischen Gesellschaft als große Gottheit angesehen. Dies ist ein extrem wichtiges Zeichen im indoeuropäischen Kontext, da die Macht der Großen Mutter so stark sein kann, dass sie die Figuren der indoeuropäischen Ideologie auf eine gänzlich andere Art transformieren und reinterpretieren kann. Wir sollten daher nicht zu sehr auf den Sieg der Götter vertrauen. Es gibt Beispiele dafür, dass die Titanen gewinnen können, sogar in diesen Mischtypen einer Gesellschaft mit indoeuropäischer Dominanz. Das selbe gilt für die Lykier. Sie sind keine Thraker, sondern Erben der indoeuropäischen hethitischen Tradition. Lykier, Lydier und die anderen anatolischen Völker waren allesamt matriarchalisch mit einem Kult der Großen Mutter wie bei den Phrygern. Wir kennen also die Beispiel dafür, wo und wann die Große Mutter gesiegt hat. Es ist wichtig, dass es bei Bachofen viele Beispiele gibt, die genau aus diesen griechischen Kolonien genommen wurden. Auch die ionischen und aeolischen Griechen wurden bis zu einem gewissen Grad von dieser vorgriechischen Tradition übermannt. Als die Dorer, die letzten von insgesamt vier griechischen Stämmen, den Balkan, den Peloponnes und schließlich den griechischen Raum erreichten, waren sie rein androkratisch, reine Turaner. Aber die vorhergehenden hellenistischen Stämme wurden mehr oder weniger in diese minoische und mykenische gemischte Zivilisation assimiliert. Dort sehen wir Städte mit Mauern (ein turanisches Merkmal), jedoch mit Tempeln der Großen Mutter im Zentrum der altertümlichen mykenischen Städte. Dort gibt es also eine Mischung im Sinne einer Revanche der Großen Mutter. Nur die Dorer haben mit sich das entscheidende Element des Patriarchats mitgebracht, als sie vom Balkan aus durch Mazedonien zogen und zerstörten die bisherigen Errungenschaften der Mixtur ionischer und äolischer Griechen basierend auf der Mischung der beiden Horizonte. Sie waren als vor kurzem angekommene Turaner Viehzüchter, rein apollinisch mit einer androkratischen Gesellschaftsordnung, die keinen Kompromiss mit dem logos der Kybele kannte. Sie kamen 1200 v.Chr. aus dem nördlichen Teil des Balkans in den Süden. Die ersten Einwanderungswellen der hellenischen Stämme fanden bereits viel früher statt.
Wir sehen, dass hier ein Kampf stattfindet, hier wird die Noomachie fortgeführt, die nie enden wollende Noomachie und wenn Sie denken, dass Sie absolut indoeuropäisch sind, wenn Sie alles als gegeben hinnehmen, könnten Sie entdecken, dass sie komplett unter der Kontrolle der Großen Mutter stehen, von innen heraus, nicht von außen, aber weil sie in den sedimentären Kulturtyp assimiliert wurde, beginnt ein neuer semantischer Krieg, der Krieg um die Interpretation. Es geht dabei zum Beispiel nicht um die Ersetzung eines Gottes durch eine Göttin, oder eines Himmelsgottes durch einen Höllengott, überhaupt nicht, das wäre viel zu einfach. Nein, es geht um die Interpretation der selben Figuren, der selben Symbole und der selben Namen. Zum Beispiel gibt es Zeus, den großen, rein patriarchalischen Gott, aber es gibt auch die Sage vom kretischen Zeus, der komplett matriarchalisch ist. Sie nehmen also ein und den selben Gott und reinterpretieren ihn auf eine andere Art, oder betrachten den selben zum Beispiel von der anderen Seite. Sie können ihn aus Ihrer Sicht interpretieren, entweder aus der des turanischen Horizonts oder aus jener der Gottheit. Sie wird dadurch zu einer Art Anelygynie werden – die Gottheit Athene, die Gottheit rein männlichen Typs, Jungfrau, rein, kämpferisch und weise, ganz anders und ohne Verbindung zur Mutterschaft, ohne Verbindungen zur Erde, ohne chthonische Beziehungen mit der Schlange. Sie können das Element aus dem Horizont des kybelischen logos nehmen und es im apollinischen Sinn reinterpretieren, oder Sie können auch das Gegenteil machen. Sie können den apollinischen Typ hernehmen, Zeus zum Beispiel, und ihn im chthonischen Sinn interpretieren, wie auch im Falle des kretischen Zeus geschehen. Dies ist ein Beispiel aus der Mythologie, es verhält sich aber genauso in allen anderen Bereichen. Es gibt einen Konflikt um die Interpretation, der in allem Indoeuropäischen inhärent und implizit ist. Dabei handelt es sich um einen andauernden Prozess, weil der logos der Kybele in unserer Kultur beinhaltet ist. Das war nicht der Fall bei den Turanern, den reinen Turanern. Sie lebten frei in ihrem nomadischen Raum in Eurasien, weil sie keinen Kontakt mit der kybelischen Zivilisation hatten.
In diesen gemischten Gesellschaftstypen gibt es auch eine Verschiebung beim Konzept der Frau. Als die Turaner sich mit dem neuen sedimentären Konzept beschäftigten, erkannten sie, dass es zwei Frauen gibt, nicht nur eine. Eine Frau kannten sie bereits zuvor im Zusammenhang mit der Anelygynie, die Frau als Freund und Krieger. Das war die Frau turanischen Typs. Und dann war da eine komplett andere Frau, eine irdische Frau, nicht maskulin, sondern eine feminine Frau ganz anderen Typs, die man als eine Art Tribut, eine Wiege, einen Besitz betrachtete. Der Freund und der Besitz stellten eine Art Aufspaltung der Gestalt, des Bildes der Frau dar, welche aus der nomadischen Lebensart und der sedimentären Lebensart resultierte. Hier gab es die Frau als Freund, die mehr oder weniger gleich war und die Frau als eine Art Besitz die einem gehörte und vielleicht auch ein Feind war, den man unterwerfen, von ihm Besitz ergreifen und kontrollieren sollte. Es gibt also immer einen doppelten Bruch im Bild der Frau. Dies wird in der doppelten Art der Gottheit widergespiegelt. Die Gottheit kann von der einen oder der anderen Art sein. Sie könnte turanische Merkmale als Athene, Diana oder Artemis bewahren. Und sie könnte sich in den kybelischen Typ als Demeter, Rhea oder Gaia verwandeln. Gaia ist ein Name für den rein matriarchalischen Typ Frau. Es gibt also zwei Strategien: Die Strategie der Eroberung, Kontrolle und Unterwerfung, wobei die Frau zu einer Art Besitz wird, was sich in einer entsprechenden Ethik, juridischen Grundlagen und Gesetzen ausdrückt. Und dann gibt es die andere Frau, die Frau als Freund. Diese Art Bruch im Bild wird in vielen Institutionen der Gesellschaft reflektiert. In jedem Fall dieser Dualität wurden die chthonischen Gottheiten zum Beispiel in die Dritte Funktion integriert. Diese Dritte Funktion wurde durch weibliche Gottheiten in diesen gemischten Kulturtypen der indoeuropäischen Kultur in der sesshaften Phase dargestellt.
Jetzt sind wir vorbereitet und können verstehen, wie die Existenzstruktur der alten indoeuropäischen Gesellschaft aufgebaut war. Wir wissen, dass es zwei Existenzhorizonte gibt, vermischt, einander überlagernd und kennen damit die Bedingungen unter denen ein weiteres Studium jeder konkreten indoeuropäischen Gesellschaft (europäisch, westeuropäisch, osteuropäisch, iranisch, indisch) möglich ist. Ich habe all diese Studien abgeschlossen, welche ich dem französischen logos, dem deutschen logos, dem lateinischen logos, dem griechischen logos in zwei Bänden, der englischen Kultur in einem Band, der iranischen Kultur in einem Buch und der indischen Kultur in einem Buch gewidmet habe. Ich habe hierbei das Konzept der zwei Horizonte angewandt um diese Hermeneutik zu testen und zu sehen, wie diese Interpretation im konkreten Fall jeder Kultur funktioniert und wie diese Überlagerung zweier Horizonte den Inhalt, die Semantik und die Bedeutung von jedem dieser Völker und Kulturen beeinflusst. Und ich kann sagen, dass es überall funktioniert. Überall können wir beide Horizonte finden. Wir können ihre Zwischenbeziehungen und Interaktionen identifizieren. Dabei finden wir Situationen, in denen ein Horizont überdauert und andere Situationen in denen der andere Horizont dominiert. Dies können wir am konkreten Zusammenhang festmachen, in der Mythologie, der Religion, der Wissenschaft und der Weltanschauung, weil der logos alles betrifft.
Am Ende dieser Vorlesung möchte ich kurz etwas als Einführung zur nächsten, der mittlerweile fünften Vorlesung sagen, damit Sie darüber vielleicht bis morgen nachdenken können. Wenn wir den logos des Apoll und den logos der Kybele im Sinne des Gesellschaftstypus zusammenmischen, können wir erwarten, dass genau diese Mixtur, dieser zivilisatorische Mischtyp, der Raum ist wo Dionysos erscheint, er sich manifestiert, weil genau hier der Schnittpunkt zweier Horizonte liegt. Hier treffen sich der vertikale logos des Apoll und der logos der Kybele, das Ergebnis ist ein gesellschaftlicher Mischtyp. Wenn wir uns daran erinnern, was ich in der ersten Vorlesung über den logos des Dionysos gesagt habe, können wir annehmen, dass genau in diesem Mischtyp von Zivilisation der Raum liegt indem Dionysos erscheint, indem sich Dionysos manifestiert, weil genau hier der Schnittpunkt zweier Horizonte liegt: Der vertikale logos des Apoll mit all seinem strukturellen Inhalt, dem turanischen Inhalt in seiner reinen Version und dem chthonischen Untergrund des logos der Kybele. Wenn sie aufeinandertreffen, wenn sie miteinander kämpfen, tritt genau der Moment der Noomachie ein, indem Dionysos erscheint. Die nächste Vorlesung wird also dem logos des Dionysos gewidmet sein.
Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Markovics.