Das christliche Reich als Aufhalter (Katechon)
Haupt-Reiter
Die Einheit Respublica Christiana hatte im Imperium und Sacerdotium ihre adäquaten Ordnungsreihen und in Kaiser und Papst ihre sichtbaren Träger. Die Anknüpfung an Rom bedeutete eine Weiterführung antiker, vom christlichen Glauben weitergeführter Ortungen1. Die Geschichte des Mittelalters ist infolgedessen die Geschichte eines Kampfes um Rom, nicht die eines Kampfes gegen Rom. Die Heeresverfassung des Römerzuges ist die Verfassung des deutschen Königtums2. In der konkreten Ortung auf Rom, nicht in Normen und allgemeinen Ideen, liegt die Kontinuität, die das mittelalterliche Völkerrecht mit dem Römischen Reich verbindet3. Diesem christlichen Reich ist es wesentlich, daß es kein ewiges Reich ist, sondern sein eigenes Ende und das Ende des gegenwärtigen Aion im Auge behält und trotzdem einer geschichtlichen Macht fähig ist. Der entscheidende geschichtsmächtige Begriff seiner Kontinuität ist der des Aufhalters, des Katechon. “Reich" bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegenwärtigen Aion aufzuhalten vermag, eine Kraft, qui tenet, gemäß den Worten des Apostels Paulus im 2. Thessalonicherbrief, Kapitel 2. Dieser Reichsgedanke läßt sich durch viele Zitate aus den Kirchenvätern, durch Aussprüehe germanischer Mönche aus der fränkischen und ottonischen Zeit — vor allem aus dem Kommentar des Haimo von Halberstadt zum 2. Thessalonicherbrief und aus dem Brief des Adso an die Königin Gerberga — , durch Äußerungen Ottos von Freising und andere Belege bis zum Ende des Mittelalters dokumentieren. Man darf hier sogar das Kennzeichen einer geschichtlichen Periode erblicken.
Das Reich des christlichen Mittelalters dauert solange, wie der Gedanke des Katechon lebendig ist. Ich glaube nicht, daß für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Katechon überhaupt möglich ist. Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so groß artigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt. Die Autorität von Kirchenvätern und Schriftstellern wie Tertullian, Hieronymus und Lactantius Firmianus, und die christliche Fortführung sibyllinischer Weissagungen vereinigen sich in der Überzeugung, daß nur das Imperium Romanum und seine christliche Fortsetzung den Bestand des Aon erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Bösen erhalten. Das war bei den germanischen Mönchen ein lichtvoller, christlicher Glaube von stärkster, geschichtlicher Kraft, und wer die Sätze Haimos von Halberstadt oder Adsos nicht von den trüben Orakeln des Pseudomethodius oder der tiburti-nischen Sibylle zu unterscheiden vermag, wird das Kaisertum des christlichen Mittelalters nur in fälschenden Verallgemeinerungen und Parallelen mit nicht-christlichen Machtphänomenen, aber nicht in seiner konkreten Geschichtlichkeit begreifen können.
Die politischen oder juristischen Konstruktionen der Weiterführung des Imperium Romanum sind im Vergleich zu der Lehre vom Katechon nicht das Wesentliche; sie sind schon Abfall und Entartung von der Frömmigkeit zum gelehrten Mythos. Sie können sehr verschieden sein: Translationen, Sukzessionen, Konsekrationen oder Renovationen aller Art. Doch haben auch sie die Bedeutung, daß sie, gegenüber der Zerstö rung antiker Frömmigkeit durch die spät-antike orientalische und hellenistische Vergottung der politischen und militärischen Machthaber, geistig eine Rettung der antiken Einheit von Ortung und Ordnung enthielten. Sie mußten sich organisatorisch im Hochmittelalter einer feudal-grundherrlichen Bodenordnung und den persö nlichen Bindungen eines feudalen Gefolgschaftswesens anpassen, während sie, seit dem 13. Jahrhundert, eine sich auflösende Einheit gegenüber einem Pluralismus von Ländern, Kronen, Fürstenhäusern und selbständigen Städten zu behaupten suchten.
Die mittelalterliche, west- und mitteleuropäische Einheit von Imperium und Sacerdotium ist niemals eine zentralistische Machtanhäufung in der Hand eines Menschen gewesen. Sie beruhte von Anfang an auf der Unterscheidung von potestas und auctoritas als zwei verschiedenen Ordnungsreihen derselben umfassenden Einheit. Die Gegensätze von Kaiser und Papst sind daher keine absoluten Gegensätze, sondern nur “diversi ordines", in denen die Ordnung der Respublica Christiana lebt. Das darin liegende Problem des Verhältnisses von Kirche und Reich ist wesentlich anders als das spätere Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat. Denn Staat bedeutet wesentlich die erst seit dem 16. Jahrhundert mögliche Überwindung des konfessionellen Bürgerkrieges, und zwar eine durch Neutralisierung bewirkte Überwindung. Im Mittelalter bringen es die wechselnden politischen und geschichtlichen Situationen mit sich, daß auch der Kaiser auctoritas, auch der Papst potestas in Anspruch nimmt. Aber das Unglück entstand erst, als — seit dem 13. Jahrhundert — die aristotelische Lehre von der “societas perfectae" dazu benutzt wurde, um Kirche und Welt in zwei Arten von societates perfectae zu trennen. Ein echter Historiker, John Neville Figgis, hat diesen entscheidenden Gegensatz richtig erkannt und dargelegt4. Der mittelalterliche Kampf zwischen Kaiser und Papst ist kein Kampf zwischen zwei “societates", mag man nun “societas" hier mit Gesellschaft oder mit Gemeinschaft verdeutschen; er ist auch kein Konflikt zwischen Kirche und Staat in der Art eines Bismarckschen Kulturkampfes oder einer franzö sischen Laizisierung des Staates; er ist endlich auch kein Bürgerkrieg wie der zwischen Weiß en und
Roten im Sinne eines sozialistischen Klassenkampfes. Alle Übertragungen aus dem Bereich des modernen Staates sind hier geschichtlich falsch; ebenso aber auch alle bewuß ten oder nicht bewuß ten Verwendungen der unifizierenden und zentralisierenden Ideen, die seit Renaissance, Reformation und Gegenreformation mit der Vorstellung einer Einheit verbunden sind. Weder für den Kaiser, der einen Papst in Rom einsetzen oder absetzen ließ , noch für einen Papst in Rom, der die Vasallen eines Kaisers oder Königs vom Treueid entband, war dadurch die Einheit der Respublica Christiana auch nur einen Augenblick in Frage gestellt.
Daß nicht nur der deutsche König, sondern auch andere christliche Könige den Titel Imperator annehmen und ihre Reiche Imperien nennen, daß sie vom Papst Missions- und Kreuzzugsmandate, d. h. Rechtstitel auf Gebietserwerb erhalten, hat die auf sicheren Ortungen und Ordnungen gegründete Einheit der Respublica Christiana nicht beseitigt, sondern nur bestätigt. Für die christliche Auffassung des Kaisertums scheint es mir wichtig zu sein, daß das Amt des Kaisers im Glauben des christlichen Mittelalters keine in sich absolute und alle ändern Ämter absorbierende oder konsumierende Machtstellung bedeutet. Es ist eine zu einem konkreten Königtum oder einer Krone, d. h. zu der Herrschaft über ein bestimmtes christliches Land und sein Volk hinzutretende Leistung des Katechon, mit konkreten Aufgaben und Missionen. Es ist die Erhöhung einer Krone, aber keine senkrechte, gradlinige Steigerung, also kein Königtum über Könige, keine Krone der Kronen, keine Verlängerung einer Königsmacht oder gar, wie später, ein Stück einer Hausmacht, sondern ein Auftrag, der aus einer völlig anderen Sphäre stammt als die Würde des Königtums. Das Imperium ist hier etwas zu eigenwüchsigen Bildungen Hinzutretendes, ebenso — und aus derselben geistigen Gesamtlage heraus — wie eine sakrale Kultsprache des Reiches zu den Landessprachen aus einer anderen Sphäre hinzutritt. Der Kaiser kann daher auch — wie das der Ludus de Antichristo im Anschluß an die ganz von Adso beherrschte Tradition zeigt — nach Vollendung eines Kreuzzuges seine Kaiserkrone in aller Demut und Bescheidenheit niederlegen, ohne sich etwas zu vergeben. Er tritt dann aus der erhö hten Reichsstellung in seine natürliche Stellung zurück und ist dann nur noch König seines Landes.
Bemerkungen
1. Die groß artigsten Beispiele für geschichtliche Verortungen enthält die Geschichte der Roma aeterna. Nach einer von angesehenen Autoren vertretenen Meinung (R. M. Schultes, De ecclesia catholica, Paris 1925) ist das Papsttum unlö slich -an Rom, und zwar an den Boden Roms gebunden und kann der Boden Roms nicht verschwinden, solange das Ende der Zeiten nicht gekommen ist. Auch Bellarmin hält die Verortung der Nachfolge Petri in Rom für rechtlich und faktisch unlö slich; Rom wird niemals ohne Klerus und ohne gläubiges Volk sein. Charles Journet.
2. Das hat Eugen Rosenstock wiederholt betont, z. B. Die europäischen Revolutionen, Jena 1931, S. 69.
3. Die rechtliche Kontinuität darf nicht in kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Übereinstimmungen gesucht werden (dazu Dopsch, Das Kontinuitätsproblem, Wien 1938). Die italienischen Juristen sehen meistens nur eine Kontinuität von Normen und Ideen, so in typischer Weise Balladore Pallieri in seinem Grundriß des Diritto Internazionale, und als “Erbe der Antike", Bruno Paradisi, Storia del Diritto Internazionale nel Medio Evo I. Milano 1940.
4. Neben den bekannten Büchern von John Neville Figgis (From Gerson to Grotius. und Churches in the Modern State) nenne ich hier besonders seinen Vortrag in Bd. V der Translations of the Royal Historical Society “Respublica Christiana".
Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum